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Der Stachel des Skorpions

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Unter Präsident Sisi wurde der angehende Arzt Ahmed Said 2015 festgenommen und ein Jahr lang inhaftiert. Der Grund: Er hatte an einer friedlichen Gedenkveranstaltung für die Revolution teilgenommen. Zeitweise befand sich Said im berüchtigten Foltergefängnis "Skorpion". Mit ihm sprach Delia Friess. | Am 2. März 2017 wurde Hosni Mubarak von der Beteiligung an der Tötung von Demonstranten bei den Protesten im Jahr 2011 durch das Oberste Gericht des Landes freigesprochen. Sie waren damals auf dem Tahrir-Platz in Kairo und leisteten medizinische Hilfe für die Verwundeten. Wie haben Sie die Situation erlebt? | Ahmed Said: Ich war unter Hunderten von Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und an anderen öffentlichen Orten, wo wir staatliche Gewalt auf allen Ebenen erlebten und Zeugen von Gewalt durch Polizisten und Militär wurden. Ich sah, wie direkt auf uns geschossen wurde, ich sah viele Menschen sterben. Es gibt Hunderte von Videoaufnahmen, die dies bezeugen. Jeder Ägypter, nicht nur die, die auf der Straße waren, weiß daher sehr genau, dass Mubarak der Hauptverantwortliche dafür ist. Natürlich nicht er alleine, sondern auch viele andere, die frei gesprochen worden sind. Niemand von ihnen wurde zur Verantwortung gezogen für die Tausenden von Opfern. Ein Hauptproblem in Ägypten ist, dass es keine unabhängige Justiz gibt. Die Judikative wird vom Militärregime kontrolliert, das die Fortsetzung des Mubarak-Regimes ist, und man kann ihr daher nicht trauen. Man kann es stattdessen als Werkzeug auffassen, das von dem Regime benutzt wird, um politische Oppositionelle, Aktivisten oder die Zivilgesellschaft zu belangen. Wann wurden Sie inhaftiert und was warf man Ihnen vor? | Said: Ich wurde am 19. November 2015 verhaftet. An diesem Tag ging ich in die Innenstadt, ans Ende der Mohamed-Mahmoud-Straße, die auch zum Tahrir-Platz führt. Ich hielt mich mit einem Freund in einem Café auf, während die Polizei alle Straßen in der Innenstadt besetzte, wie sie es immer an Jahrestagen der Revolution des 25. Januars zu tun pflegt. Sie musterten uns misstrauisch – und ich beobachtete, wie ein Polizeibeamter zu seinem Assistenten rief: "Bring mir diesen Typen mit den langen Haaren." In Ägypten werden Menschen, die zur Revolution gehören oft als Männer mit langen Haaren stereotypisiert. Dann schnappten sie uns, nahmen unsere persönlichen Daten auf und verweigerten mir, zu telefonieren. Schließlich erklärte der Polizeioffizier, dass er mich auf die Wache bringen will, um sicherzugehen, dass ich nicht gesucht werde. In der Polizeistation legten sie mir eine Augenbinde an und begannen mich zu foltern und dabei zu verhören. Drei Stunden zuvor hatte ich noch an einer 30-minütigen Gedenkveranstaltung für die Opfer der Revolution auf der Brücke des 6. Oktobers teilgenommen. Doch sie haben mich letztlich nicht wegen dieser kleinen Demonstration verhaftet, vielmehr geschah dies aus reiner Willkür. Sie wurden in verschiedene Haftanstalten verlegt, darunter auch in das berüchtigte "Skorpion"-Gefängnis (Al-Aqrab) in Kairo. Welche Erfahrungen mussten Sie dort machen?Said: Ägyptische Gefängnisse sind meiner Meinung nach typisch für Diktaturen. Auch wenn es dort offiziell Auflagen für die Wahrung der Rechte des Gefangenen gibt, kommen diese nicht zur Anwendung. Die Situation der Gefangenen hängt komplett vom Willen des jeweiligen Gefängniswärters ab und ist daher sehr unterschiedlich. Doch allen Gefängnissen ist gemein, dass dem Gefangenen der Zugang zu Grundrechten verwehrt wird. Es gibt Gefängniswärter, die jedes Detail eines Gefangenen kontrollieren, ihm Familienbesuch verwehren oder ihn tage- oder sogar wochenlang in Isolationshaft halten – ohne Licht, Wasser oder Essen. All das ist möglich, ohne dass es einer besonderen Genehmigung der Gefängnisleitung bedarf. Es ist schon vorgekommen, dass die Wärter Häftlinge und deren Familienangehörigen während der Besuchszeiten schlugen, ohne dass dies geahndet wurde. Auch fehlt es in den Haftanstalten an adäquater medizinischer Versorgung. Die Verweigerung medizinischer Versorgung wird zum Teil sogar auch bewusst als Strafmaßnahme ergriffen. Einige Gefangene warten Monate darauf, in ein Krankenhaus verlegt zu werden. Ich selbst wurde Zeuge eines Todesfalls im Gefängnis: Ein Häftling starb, nachdem ihm eine Woche lang medizinische Hilfe verwehrt worden war. Wie beurteilen Sie die Haftbedingungen in ägyptischen Gefängnissen? | Said: Das variiert von Gefängnis zu Gefängnis. In Al-Aqrab, wo ich die meiste Zeit meiner Haftstrafe einsaß, ist die Zelle etwa neun Quadratmeter groß – einschließlich der Toilette, die ein Loch im Boden ist. Die Anzahl von Gefangenen reichte zeitweise von zehn bis dreizehn Mithäftlingen. In anderen Gefängnissen soll die Gefangenenzahl in einer Zelle sogar doppelt so hoch sein. Wir mussten auf dem Zementboden schlafen. Es war uns nicht gestattet, Bücher, Zeitungen oder Briefe von draußen zu erhalten. Den Inhaftierten erlaubte man lediglich für eine Stunde am Tag die Zelle zu verlassen,obwohl die Auflagen vier Stunden vorschreiben. Während meiner gesamten Haftzeit sowie vor und nach den Gerichtsverhandlungen erhielt ich keinerlei Möglichkeit, meinen Anwalt zu kontaktieren. Ich durfte nur mit meiner Familie sprechen, doch insgesamt zweimal wurde mir das Besuchsrecht ohne jede Begründung verwehrt. Wie lange dauerte das Gerichtsverfahren gegen Sie? | Said: Schnell. Bereits nach zwei Wochen wurde ich verurteilt. Wie haben Sie die politische Stimmung in Ägypten vor Ihrer Verhaftung erlebt?Said: Seit dem Militärputsch vom 30. Juni 2013 und der Machtübernahme Abdel Fattah al-Sisis gibt es kein wirkliches politisches Leben mehr in Ägypten. Die offiziellen Stellen des Regimes haben eine extrem nationale und chauvinistische Propaganda verbreitet und so ein Klima der Angst erzeugt, in dem jede Opposition - genau wie jede zivilgesellschaftliche Initiative - kriminalisiert wird. Die meisten oppositionellen Gruppen wurden entweder gezwungen, still zu sein oder das Land zu verlassen. Zu Beginn wurden mehr als 45.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Heute gibt es mehr als 60.000 politische Gefangene. Nach einjähriger Haft wurden Sie gemeinsam mit 81 weiteren Gefangenen im November 2016 begnadigt und konnten nach Deutschland ausreisen. Wie stellt sich die Situation der politischen Gefangenen und die Meinungsfreiheit im Land heute dar? | Said: Die Menschen leben bis heute in einem Klima der Angst. Sie haben Furcht davor, frei zu sprechen – selbst dann, wenn es gar nicht direkt um Regimekritik geht. Es ist die Angst davor, etwas zu sagen, das womöglich nicht mit der offiziellen Propaganda kompatibel ist. Einige Beispiele: Der ägyptische Schriftsteller Ahmed Nagi wurde aufgrund einer explizit sexuellen Passage in seinem letzten Buch "The Use of Life" zu zwei Jahren Haft verurteilt. Und auch das "Al-Nadeem Center", ein Rehabilitationszentrums für Opfer von Gewalt und Folter, wurde vor einigen Wochen geschlossen. Hierbei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern dahinter steckt die Strategie des Regimes, jede andere Meinung zu unterdrücken. Der italienische Student Giulio Regeni, der über Gewerkschaften und Oppositionelle forschte, verschwand am 11. Januar 2016 spurlos und wurde später ermordet an einer Schnellstraße in Kairo aufgefunden. An seinem Körper fand man Folterspuren. Der Fall hatte zu Protesten und Spannungen im italienisch-ägyptischen Verhältnis geführt. Wie beurteilen Sie den Fall Regeni?Said: So wie Regeni erging es bereits Khaled Said (der von der Geheimpolizei in Alexandria im Juni 2010 misshandelt und getötet wurde/Anm. d. Red.). Nur ist dieses Mal kein Ägypter. Die ägyptische Generalanwaltschaft hatte Monate nach dem Tod Regenis eingeräumt, dass die ägyptische Polizei in den Mord an Regeni involviert gewesen ist. Sie hatte einige Namen von Polizeibeamten an die italienische Generalanwaltschaft weitergegeben. Die staatlichen Medien in Ägypten versuchten Regeni als Spion darzustellen, um den Mord an ihm zu rechtfertigen. Ich persönlich glaube, dass nicht nur drei Beamte für seinen Tod verantwortlich sind, sondern dass das Regime den Mord geradezu legitimiert hat. Auch der Blogger Alaa Abdel Fattah sitzt seit 2013 in Haft. Während des Arabischen Frühlings galten Soziale Netzwerke als wichtiges demokratisches Kommunikationsinstrument. Wie gefährlich ist die freie Meinungsäußerung via Social-Media in Ägypten heute? | Said: Heute werden die Social-Media-Kanäle sehr strikt von der Regierung überwacht und kontrolliert. Es gibt sogar den Fall eines jungen Ägypters, der nur aufgrund eines Likes auf Facebook zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde! Gegen Mubarak gingen im Jahr 2011 Tausende Ägypter auf die Straße, gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mursi wenige Jahre darauf aber auch. Ist Ihrer Meinung nach auch mit einer neuen Protestwelle gegen Al-Sisi zu rechnen? | Said:Ich glaube, dass die Leute gegen jeden Präsidenten oder Machthaber aufbegehren werden, der sie unterdrückt und nicht ihre Erwartungen erfüllt. Insbesondere, wenn es keine demokratischen Wege für einen politischen Wandel gibt. Die ägyptische Gesellschaft gilt als tief gespalten: Ein Großteil der Ägypter wählte die Muslimbruderschaft, ein anderer Teil wünscht sich eine Trennung von Staat und Religion. Wie haben Sie zuletzt die Stimmung in Ihrem Land erlebt? | Ich denke, dass das Militär diese gesellschaftliche Spaltung nutzt, um den Konflikt weiter zu schüren und eine politische Instabilität herzustellen. Gleichzeitig glaube ich, dass alle unterschiedlichen oppositionellen Gruppen in Ägypten unter dem Regime leiden. Der erste Schritt ist immer die Befreiung, dann kommt die Zeit, in der ein demokratisches System erwachsen muss. Das Interview führte Delia Friess. Sie ist die Schwester von Ahmed Saids Lebensgefährtin Eliane Friess. | © Qantara.de 2017

Manche sind gleicher

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Während sich Ex-Diktator Hosni Mubarak nicht für den Tod von Hunderten Demonstranten verantworten muss und ungeschoren davon kommt, sind aus der Haft entlassene Demokratieaktivisten wie Ahmed Maher weiterhin juristischen Schikanen ausgesetzt. Von Karim El-Gawhary aus Kairo | Der ägyptische Ex-Diktator Hosni Mubarak ist wieder auf freiem Fuß. Am letzten Freitag (24.3.2017) hatte der 88-Jährige das Militärkrankenhaus in Kairo verlassen und kehrte in seine Villa im Norden Kairos zurück. Es gibt in Ägypten zwei sehr unterschiedliche Wege, wie man sich in Haft befindet und wie man aus dieser wieder rauskommt. Der freigelassene Mubarak hatte den größten Teil seiner Haftzeit "aus gesundheitlichen Gründen" in einem Militärkrankenhaus im Süden Kairos verbracht. Ahmed Maher, einer der prominenten Aktivisten der "Bewegung 6. April", eine Gruppe säkularer, liberaler Jugendlicher, die einst gegen die Mubarak-Diktatur auf dem Tahrirplatz demonstrierte, hat dagegen eine ganz andere Haftzeit verbüßen und vor allem eine andere Art von "Freilassung" erfahren müssen. Maher war nach der Übernahme der Macht durch das Militär 2013 zu drei Jahren Haft verurteilt worden, weil er - wie zu Zeiten der Proteste vom Tahrirplatz gegen das Mubarak-Regime - es gewagt hatte, erneut zu demonstrieren – dieses Mal gegen die Herrschaft der Armee. Sein Vergehen: Teilnahme an einer "illegalen Demonstration", wie es laut ägyptischem Demonstrationsrecht heißt. Später erhielt Maher weitere sechs Monate "für verbalen Widerstand gegen die Staatsgewalt", weil er einen Polizisten aufgefordert hatte, dass er ihm im Berufungsverfahren die Handschellen abnimmt. Beide, der Ex-Diktator Mubarak und der Aktivist Maher, sind offiziell frei. Das Kassationsgericht hatte Anfang dieses Monats Mubarak von der Anklage freigesprochen hatte, die Ermordung der 800 Demonstranten befohlen zu haben, die während des 18-tägigen Aufstandes gegen ihn umgekommen waren. Fehlende Beweise: Der Richter hatte wohl kaum eine andere Wahl. Denn es gab keine ausreichenden Beweismittel, um die damalige Befehlskette nachzuweisen. Die Telefonprotokolle sind verschwunden. Vielleicht auch kein Wunder, wenn der Sicherheitsapparat, der hier untersucht werden sollte, der gleiche ist, der die Beweismittel vorlegen und sichern sollte. Anschließend hatte die Staatsanwaltschaft so schlampig gearbeitet, dass aus der Strafverfolgung im Fall Mubaraks nicht mehr viel übrig blieb. Fakt ist, dass bis heute niemand für den Mord an den 800 Menschen im Jahr 2011 zur Rechenschaft gezogen wurde.Ahmed Maher war im vergangenen Januar auf freien Fuß gesetzt worden, nachdem er seine gesamte Haftzeit abgesessen hatte. Anders als der Diktator, hat er diese jedoch tatsächlich im Gefängnis verbracht, in der berüchtigten Tora-Haftanstalt, und das meist in Einzelhaft – keine vier Kilometer Luftlinie von Mubaraks Luxus-Einzelzimmer im Kairoer Militärkrankenhaus entfernt. Und auch die Haftentlassung fällt beim Diktator a.D. und dem Aktivisten, der einst gegen ihn demonstrierte, recht unterschiedlich aus: Während sich Mubarak in seine Villa zurückziehen konnte, in der auch als Präsident und Vizepräsident seit 1979 gewohnt hatte, kommt Maher für weitere drei Jahre auf Bewährung frei. Korruptionsskandal und der Fall des Präsidentenpalastes: Mubaraks Villa war übrigens Teil eines Korruptionsskandals, der sogar dazu geführt hatte, dass die ehemalige First Lady, Suzanne Mubarak, nach dem Sturz ihres Mannes vorübergehend inhaftiert worden war. Das Gebäude, das sich ursprünglich in Staatsbesitz befand, war nämlich 2002 auf äußerst dubiose Weise an Suzanne Mubarak verkauft worden. Dazu bediente man sich eines komplizierten Konstruktes, wie der investigative ägyptische Journalist Hossam Baghat mit Hilfe eines Whistleblowers aus dem Geheimdienst herausfand. Der kleine Palast war von der Staatskasse zunächst dem Geheimdienst überschrieben worden, der ihn dann an eine Immobilienfirma verkaufte, die sich ebenfalls unter Kontrolle des Geheimdienstes befand. Diese Immobilienfirma verkaufte die Villa dann wiederum an Suzanne Mubarak. Nachdem sich Suzanne im Mai 2012 wegen Veruntreuung von Staatsgeldern für vier Tage in Untersuchungshaft befand, wurde sie schließlich unter Bedingungen freigelassen, darunter auch, dass sie die Villa an den Staat zurückverkauft.Und auch was die Einrichtung der Villa angeht, in die Mubarak nun zurückzieht, ist es ganz offensichtlich nicht mit rechten Dingen zugegangen. In einem der zahlreichen Verfahren gegen Mubarak war der Ex-Diktator im Januar 2016 nur ein einziges Mal rechtskräftig verurteilt worden – zu drei Jahren Haft. Der Prozess war unter dem Titel "der Fall des Präsidentenpalastes" bekannt geworden. Mubarak und seine beiden Söhne wurden damals verurteilt, umgerechnet 13 Millionen Euro an Staatsgelder veruntreut zu haben, um ihre Residenzen zu renovieren. Mit zweierlei Maß: Ahmed Maher ist zwar – genau wie Husni Mubarak – nominell ebenfalls heute ein freier Mann, allerdings mit einer entscheidenden Auflage: Wohl aus Angst, Maher könnte womöglich noch einmal seine alten Tahrir-Netzwerke gegen das heutige Regime mobilisieren, hatte man sich für ihn eine besonders perfide Schikane ausgedacht. Jeden Abend muss er sich die nächsten drei Jahre während seiner "Bewährungszeit" persönlich in einer Polizeiwache im Osten Kairos melden, wo er dann bis zum folgenden Morgen um sechs Uhr übernachten muss. Ihm ist weder gestattet die Wache zu verlassen, noch Besuch zu empfangen. Auch darf er lediglich mit den Polizisten kommunizieren, das Mitführen elektronischer Geräte ist untersagt. Damit soll sichergestellt werden, dass sich Maher von neuerlichen politischen Aktivitäten fernhält. Tritt er in der Polizeiwache mit einer fünfzehnminütigen Verspätung ein, droht ihm eine neuerliche Gefängnisstrafe. Der Mann, gegen den sich Maher einst mit seinen Freunden auf dem Tahrirplatz erhob, muss nach seiner Freilassung freilich noch mit zwei weiteren Einschränkungen leben: Er darf das Land künftig nicht verlassen, weil noch eine weitere Untersuchung gegen ihn läuft – nämlich wie er zu seinem gesamten Reichtum gekommen ist. Allerdings dürfte Husni Mubarak dieser zweiten Einschränkung eher gelassen entgegensehen – ein solches Verfahren wird er zu Lebzeiten wohl nicht mehr fürchten müssen. Karim El-Gawhary | © Qantara.de 2017

Die Saat der Gewalt

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Die Muslimbruderschaft als ehemals stärkste und bestorganisierte Oppositionsgruppe Ägyptens ist heute verboten. Auch ihre Funktion als Leitbild hat sie in den Augen der Jüngeren verloren, die nicht mehr an Gewaltfreiheit glaubt, so wie sie führende Köpfe der Muslimbrüder im Exil vertreten. Von Paolo Gonzaga | Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi sieht sich heute mit einem dschihadistischen Aufstand im Sinai unter Leitung der lokalen Kräfte von IS und Al-Qaida konfrontiert sowie neuen, innerägyptischen Terrorgruppen, die in den ägyptischen Städten an Boden gewinnen und immer gewaltsamer vorgehen. Die jüngsten Angriffe auf die koptische Kathedrale in Kairo gingen offenbar auf das Konto der sogenannten Ikhwani-Anhänger – eine der neuen, lokalen Terrorgruppen Ägyptens. Nur zwei Tage vor den Anschlägen auf die Markuskathedrale bekannte sich die Gruppe Hasm zum Mord an sechs Polizisten in Gizeh. Hasm steht für "Haraka Sa'waid Masr". Die Gruppe errang erstmals im Juli 2015 traurige Bekanntheit durch den Mord an Mahmoud Abdel-Hamid, einem Polizeioffizier im Gouvernement Al-Fayyum. 2016 bekannte sich die Gruppe zu den Mordversuchen an zwei hochrangigen Mitgliedern der ägyptischen Regierung: dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt Zakaria Abdel Aziz im August und dem Richter Ahmed Abdul Futuh im November. Die Bewegung versuchte zudem, den renommierten Gelehrten Ali Gum'a zu ermorden, den ehemaligen Großmufti von Ägypten. | Hasm ging aus dem Zorn junger ehemaliger Mitglieder der Muslimbruderschaft hervor und entwickelte sich im Kontext der brutalen Unterdrückung durch den ägyptischen Staatspräsidenten Al-Sisi. Sie entstand, nachdem die Muslimbruderschaft als Reaktion auf die Maßnahmen des Regimes sogenannte Abschreckungskomitees gründete. Das Massaker am Rabia-al-Adawiyya-Platz als Wendepunkt : Die Massentötung von eintausend Demonstranten auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz und auf dem Al-Nahda-Platz im Jahr 2013 markierte einen Wendepunkt. Im Anschluss an die Massaker schlossen sich junge Ägypter und Anhänger islamistischer Gruppen – aus der Muslimbruderschaft und salafistischen Dschihadisten – zu einer neuen militant-islamistischen Bewegung zusammen.Diese Gruppen griffen rasch zur Gewalt und formulierten den Slogan "alles außer Kugeln". Die erste Gruppe waren die Ultras Rabaawi und Nahdawi. Sie setzten urbane Guerilla-Taktiken ein, warfen Molotowcocktails auf Sicherheitskräfte und griffen nationale Institutionen an. Die Debatte über den Einsatz von Gewalt stellte die Muslimbruderschaft vor eine Zerreißprobe. Bewegungen, wie die Helwan-Brigaden, die Bewegung der Revolutionären Bestrafung und das Ausführungsbataillon sahen sich selbst als Widerstandsbewegung, die sich der Gewalt als legitimes Mittel im Kampf gegen das Sisi-Regime bediente und Anschläge gegen Staats- und Sicherheitskräfte verübte. Auch beschuldigten sie die Gesellschaft des Abfalls vom Islam (Apostasie), so wie es dschihadistische Gruppen üblicherweise tun. 2015 schlossen sich fünf dieser militanten Gruppen zu verschiedenen Volkskomitees zusammen, die sich u.a.  Volkswiderstand, Bestimmung, Revolutionäre Bestrafung, Bewegung für die Revolution in Bani Suwaif und Ausführung nannten. Diese Komitees zielten vorwiegend auf Niederlassungen internationaler Konzerne ab – wie beispielsweise auf Restaurants von Kentucky Fried Chicken – sowie auf staatliche Institutionen – beispielsweise Polizeiwachen. Das Volkskomitee von Gizeh bekannte sich zum Mord an Generalstaatsanwalt Hischam Barakat, einem der Architekten der Repression gegen die Muslimbruderschaft seit dem Militärputsch. Zerfaserter militant-islamistischer Widerstand: Die Sprache all jener Gruppen verrät die enge Verbindung zur Muslimbruderschaft und ihre relative Distanz zu anderen, rein dschihadistischen Gruppen. Die Aktivitäten dieser Volkskomitees schwächten sich jedoch in jüngster Zeit aufgrund der wachsenden Dominanz der Hasm-Bewegung ab – eine Gruppierung, die eher panislamistische Positionen vertritt. So gratulierten ihre Führungskader den Mudschahedin nach der Eroberung der syrischen Stadt Aleppo und hießen mit der Revolutionsbrigade ("Liwa al-Thawra") eine neue militante ägyptische Gruppe willkommen, die in ihren Augen "ein Mitglied des gesegneten Widerstands" ist.Als am 21. August des vergangenen Jahres ein Polizist und ein Soldat getötet wurden, ließ die Revolutionsbrigade in ihrem Bekennerschreiben verlautbaren: "Diese Operation ist die Antwort auf die Massaker einer kriminellen Regierung, die für die Massaker auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz und dem Al-Nahda-Platz verantwortlich ist und deren Opfer wir dieser Tage gedenken". Hier zeigt sich die Verbindung der Gruppe zur Muslimbruderschaft deutlich. Zwei Monate später bekannte sich die Revolutionsbrigade zur Ermordung des Generalmajors Adil Rijai in Kairo als Vergeltung für die Erschießung Mohammed Kamals, einem führenden Kopf der Muslimbruderschaft. Im Januar 2015 wurde auf "ikhwanonline"– einer von der extremistischen Front um Mohammed Kamal oder Mohammed Montasser kontrollierten Website – ein Artikel veröffentlicht, der offen die Rückkehr zum "Heiligen Krieg" thematisierte: "Der Imam Hassan al-Banna stellte einst die Dschihad-Brigaden zusammen und entsandte sie mit dem Auftrag nach Palästina, die zionistischen Besatzer zu töten. Der zweite Führer, Hassan al-Hudaibi, baute die Geheimorganisation wieder auf, um das Blut der britischen Besatzer zu vergießen". Der neue Aufruf der Muslimbruderschaft zum Dschihad erfolgte, nachdem der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi die repressiven Maßnahmen gegen die Bruderschaft verstärkte und viele Unterstützer inhaftierte. Die radikalsten Strömungen und Diskurse werden über neue Online-Fernsehplattformen verbreitet, die nach 2013 in der Türkei eingerichtet wurden.Auge um Auge, Zahn um Zahn: Die teilweise von Religionsgelehrten (Ulama) in der Türkei kontrollierten Programme umfassen zwei besonders radikale: "Mukammiliin" (wir marschieren weiter) und "Al-Sharq" (der Osten). Nach der Erschießung Mohammed Kamals durch Sicherheitskräfte nahmen die einflussreichen Ulamas Essam al-Talima und Mohammed al-Saghir zu dessen "Märtyrertum" in "Al-Sharq" und "Al-Jazeera" Stellung. Beide sind maßgebliche Gelehrte der Muslimbruderschaft, der letztgenannte sogar ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter. In ihrem Kommentar rechtfertigten sie die Racheakte mit Bezugnahme auf den Grundsatz "Auge um Auge und Zahn um Zahn". Diese Stellungnahmen lassen keinen Zweifel daran, dass der Slogan der alten Führungsgarde "Unser Pazifismus ist mächtiger als Eure Kugeln" und die damit verbundenen politischen Praktiken in einer tiefen Krise stecken. Der Überzeugung, Gewaltlosigkeit sei das Mittel der Wahl, ist mittlerweile eine junge Bevölkerung entgegengetreten, die sich unter der staatlich verordneten Repression zunehmend radikalisiert hat. Während innerhalb der Muslimbruderschaft die Meinung vorherrschte, Gewalt sei nur begrenzt zulässig, da diese in extreme Zustände wie in Syrien gipfeln könnte, hat sich das Meinungsspektrum vor allem unter den jüngeren Anhängern der Muslimbrüder nach deren Auflösung in Ägypten stark ausdifferenziert. In ihrer Rhetorik vergleichen ägyptische islamistische Aktivisten die Leiden der heutigen Muslime mit denen in der Ära von Präsident Gamal Abdel Nasser. Und mehr und mehr junge Menschen lassen sich von Sayyid Qutb inspirieren, dem Vater des zeitgenössischen Dschihadismus, der unter Nasser zum Tode verurteilt und gehängt wurde. Und während sich die Abwärtsspirale der Gewalt in Ägypten heute immer schneller dreht, wird jedwede ideologische Abkehr von der Gewalt durch die blinde Repression des Regimes ein Riegel vorgeschoben. Paolo Gonzaga | © ResetDoc 2017 | Aus dem Englischen von Peter Lammers

Einfach weggesperrt

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Mahmud Abu Zeid, Künstlername Shawkan, hat in Ägypten auf einer Demo der Muslimbrüder fotografiert. Deswegen sitzt er seit fast vier Jahren in Haft – ohne Urteil. Von Karim El-Gawhary | Zum dritten Mal wird der Prozess vertagt. Ohne Verhandlung. Es ist Mai 2017, im Saal des Sondergerichts im Gefängnis der ägyptischen Stadt Tura. Seit dreieinhalb Jahren sitzt Mahmud Abu Zeid, bekannt unter seinem Künstlernamen Shawkan, im Gefängnis. Ihm wird vorgeworfen, einer terroristischen Vereinigung anzugehören. Aber Shawkan ist Fotograf. Und genau das ist ihm zum Verhängnis geworden.Shawkan hatte am 14. August 2013 für eine Bildagentur als Pressefotograf am Rabaa-Adawiya-Platz in Kairo ein Protestlager der Muslimbrüder fotografiert. Er befand sich hinter der Linie der Sicherheitskräfte, als Armee und Polizei das Camp auflösten. Damals war offiziell von hunderten Toten die Rede, Human Rights Watch spricht von mehr als tausend und bezeichnet das Blutbad als "Ägyptens Tiananmen", in Anspielung an das chinesische Massaker im Jahr 1989. Viele der Demonstranten vom Rabaa-Adawiya-Platz wurden 2013 von Scharfschützen erschossen, etliche weitere festgenommen. So auch Fotograf Shawkan, zusammen mit einem französischen und einem amerikanischen Kollegen. Beide kamen noch am selben Tag frei. Shawkan hingegen sitzt nach wie vor in Haft.Vor dem Gerichtssaal steht Shawkans Bruder, Muhammad Abu Zeid, sichtlich enttäuscht. Abu Zeid besucht seinen Bruder einmal pro Woche im Gefängnis. "Es geht ihm schlecht. Er ist depressiv und leidet an Hepatitis C und Anämie, ohne angemessen behandelt zu werden", erzählt er. Shawkan teile seine Zelle mit 22 Menschen. Hofgang gebe es ein-, zweimal pro Woche. Den Rest der Zeit verbringe er eingepfercht.Fotografieren als Verbrechen: Vor eineinhalb Jahren, ganze zwei Jahre nach der Festnahme, begann der Prozess gegen Shawkan und 400 weitere Menschen. Sie alle sollen Muslimbrüder sein, so die Anklage. Dass Shawkan im Gegensatz zu den meisten seiner Mitangeklagten nicht als Demonstrant, sondern als Reporter unterwegs war, scheint vor Gericht kein Gewicht zu haben.Die Dokumente, die seine Anwälte vorgelegt haben, die nachweisen, dass er an diesem Tag bei der Fotoagentur Demotix unter Vertrag stand, haben die Richter nicht als Beweismittel zugelassen. Shawkans Kamera wurde bei seiner Festnahme konfisziert, zusammen mit den Fotos, die er im Protestlager gemacht hat. Sie ist seitdem verschwunden. "Ich habe nur fotografiert, Herr Richter, das ist doch kein Verbrechen", hatte sich Shawkan an einem Prozesstag verteidigt. "Ich habe das Gleiche getan wie die Fotografen hier im Gerichtssaal, von denen ich viele persönlich kenne."Nach zwei Jahren Untersuchungshaft ohne Urteil habe Shawkan laut Gesetz eigentlich freigelassen werden müssen, sagt sein Anwalt Karim Abdel Radi. Das Gericht habe das einfach ignoriert. In der ganzen Zeit seien keine Beweise vorgelegt worden, dass Shawkan irgendetwas anderes als seine Arbeit gemacht habe, sagt Abdel Radi weiter. Zudem entbehre die Anklage, er gehöre der Muslimbruderschaft an, jeder Grundlage. Im Gegenteil, Shawkan sei dafür bekannt gewesen, politisch gegen die Muslimbrüder zu sein. So hatte er beispielsweise an Demonstrationen gegen Mohammed Mursi teilgenommen, dem Muslimbruder, der als Nachfolger des 2011 gestürzten Mubarak gewählt worden war. 2013 wurde Mursi vom Militär abgesetzt.Journalisten im Visier: Seit dem Sturz der Muslimbrüder gehen Regierung und Justiz systematisch gegen Medien und Journalisten vor, bei denen sie Verbindungen zu oder auch nur Sympathien für die Organisation vermuten. Auf der neuesten Weltkarte von Reporter ohne Grenzen über die Lage der Pressefreiheit ist Ägypten ganz schwarz eingezeichnet. "Sehr ernste Lage" für Journalisten, heißt das. Die Nichtregierungsorganisation listet das Land am Nil auf Rang 161. Vor allem für lokale Journalisten sei die Arbeit gefährlich. So mancher landet für Jahre im Knast, oft ohne Anklage. Aus diesem Grund sei Selbstzensur in den Medien verbreitet. "Viele ergreifen offen Partei für Armee und Regierung, nur wenige ägyptische Journalisten wagen Kritik", heißt es bei Reporter ohne Grenzen.Festgenommene Journalisten würden jedoch nie direkt wegen ihrer Arbeit angeklagt, sagt Abdel Radi. "Sie erfinden irgendetwas, um nicht zugeben zu müssen, dass die Haft mit ihrem Job zu tun hat." Shawkan werde womöglich am Ende für unschuldig erklärt, meint der Anwalt. "Aber durch die lange Haftzeit haben sie ihn für seine Arbeit bestraft.""Kämpft für die Fotografie": Nicht nur Amnesty International hat sich in der Zwischenzeit des Falls angenommen. Auf der Facebookseite "Freedom for Shawkan" zeigen sich viele solidarisch. Die Nachrichten, die er dort für die Freilassung Shawkans bekomme, habe er früher ausgedruckt, erzählt Shawkans Bruder Muhammad Abu Zeid. Aber jetzt dürfe er sie nicht mehr ins Gefängnis mitbringen. "Also lerne ich sie auswendig, um ihm davon zu berichten."Manchmal gelingt es auch, einen Brief Shawkans aus dem Gefängnis zu schmuggeln. In einem davon appelliert Shawkan an alle Fotografen auf dieser Welt: "Kämpft für die Fotografie. Wir sind jene, die Geschichte gemacht haben, nicht die Historiker, unsere Fotos haben den Moment festgehalten", schreibt er und endet: "Ich bitte euch alle: Hört nicht auf zu fotografieren – für mich."An diesem Tag im Mai hat sich wieder nichts bewegt für Shawkan. "Wenn ich ihn besuche, fragt er mich nach Neuigkeiten im Prozess", erzählt sein Bruder: "Was soll ich ihm sagen?"Vielleicht, dass es einen winzigen Fortschritt gegeben hat: Das Gericht hat einen medizinischen Bericht über den Gesundheitszustand Shawkans zu den Akten genommen. Karim El-Gawhary | © Qantara.de 2017

Vom barbarischen Staat zur barbarischen Gesellschaft

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Der syrische Publizist Morris Ayek beschreibt in seinem Essay, wie es den repressiven arabischen Staaten gelungen ist, eine Gesellschaft nach ihrem Vorbild und Antlitz zu schaffen. | "Der barbarische Staat", so lautete der Titel von Michel Seurats Studie über das Syrien Hafiz al-Assads, und Seurat sollte schon bald selbst Opfer dieser von ihm untersuchten Barbarei werden, als er 1985 im Libanon entführt und ein Jahr später umgebracht wurde. Seine Beschreibung zielte auf bestimmte Merkmale eines Staates, der in seinem Vorgehen und seiner Machtausübung nicht kontrolliert wird durch Gesetze oder institutionelle Vorgaben und sich im Verhältnis zu den eigenen Bürgern, ganz gleich, ob es sich dabei um Gegner handelt oder nicht, durch ein gewissen- und skrupelloses Verhalten auszeichnet. Und vielleicht entscheidend ist, dass der Lebensnerv von Macht und Autorität in einem solchen Staat auf Fanatismus im Sinne eines Stammesbewusstseins beruht, und zwar in der von Ibn Khaldun definierten Bedeutung: in anderen Staaten kann solcher auch die Form von Konfessionalismus oder Tribalismus annehmen. Der barbarische Staat als grenzübergreifendes PhänomenDer barbarische Staat indes ist kein Phänomen, das sich auf Syrien beschränkt. Er findet sich auch im Irak und in Libyen, in abgeschwächter Form auch in Ägypten und anderen arabischen Staaten. Barbarei von staatlicher Seite ließ sich 1982 beim Massaker von Hama beobachten oder in der Anfal-Operation der Truppen Saddam Husseins und im Giftgasangriff von Halabdscha 1988. Doch der Ort schlechthin, an dem sich die Barbarei manifestiert, ist und bleibt das Gefängnis, und nicht von ungefähr sind die Namen einiger Gefängnisse zu Meilensteinen in unseren Staaten geworden, angefangen vom syrischen Tadmur-Gefängnis über die Abu-Zaabal-Haftanstalt in Ägypten bis hin zum Hochsicherheitsgefängnis Abu Salim in Libyen und dem berühmt-berüchtigten Abu Ghreib in Bagdad. Auch ließe sich theaterreife Zurschaustellung von Barbarei wie die landesweite Konferenz der irakischen Baath-Partei im Jahre 1979 nennen, auf der Saddam Hussein endgültig die Macht an sich riss.Während jener Konferenz kam es zur Enttarnung "verräterischer Genossen", wurden deren Geständnisse gehört und hernach ihre Hinrichtung vorgenommen – alles ohne Prozess, ja die übrigen anwesenden Delegierten wurden sogar genötigt, die Exekutionen eigenhändig durchzuführen. Kollektiviertes Verbrechen: Ähnlich verlief die Liquidierung des libyschen Oppositionellen Abdel Salam Akhchiba im Jahr 2005, der ebenfalls ohne vorheriges Gerichtsverfahren zu Tode geschleift wurde, wobei Dutzende von Soldaten auf ihn einschlugen und traten. In beiden Fällen war es nicht nur die Ungesetzlichkeit und Abscheulichkeit, die diese Schreckensszenen ausmachte, sondern auch die erzwungene Teilnahme aller Anwesenden an dem Hinrichtungsakt, eine Kollektivierung des Verbrechens. Doch die Barbarei blieb nicht auf den Staat beschränkt, sondern hat längst schon die Gesellschaft erreicht. Sie ist zu einem allgemeinen Verhaltensmerkmal geworden, zu beobachten in vermehrter Grausamkeit und immer öfter fehlender Moralität oder einem Mindestmaß von menschlichem Einfühlungsvermögen und Mitleid.Eine kollektive Hetzjagd, die Ergreifung eines jungen Mannes, der halbnackt an einen Laternenpfahl gebunden und ausgepeitscht wird, oder das Eindringen in eine Wohnung, von deren Balkon wenig später das Mobiliar geworfen wird, ohne dass jemand einschritte – das alles sind keine Phantastereien, sondern reale Ereignisse, die sich in Ägypten zugetragen haben. Ereignisse, die bis vor wenigen Jahrzehnten noch unmöglich, ja undenkbar waren – und heutzutage vollkommen normal erscheinen.Heute erleben wir, wie in Beirut gefeiert wird und man Süßigkeiten verteilt aus Freude über das Gemetzel im syrischen Al-Qusayr, ja wir werden Zeuge, wenn sogar in ein und derselben Stadt die Bewohner des Westteils von Aleppo die Zerstörung und das Sterben im Ostteil der Stadt bejubeln. Und andernorts herrschen Entzücken und Genugtuung über das Blutbad auf dem Rabi'a-al-Adawiyya-Platz in Kairo. "Fraktionen" eines Volkes feiern den Tod, der andere "Fraktionen" desselben Volkes ereilt, und machen so gemeinsame Sache mit der Barbarei des Staates, ihrer Rechtfertigung und Inszenierung. Wie konnten wir diesen Tiefpunkt erreichen?: Ich bin der Überzeugung, eine Erklärung hierfür könnte die Beziehung sein, in der drei Dinge zueinander stehen – der Staat, die Gesellschaft und das Gesetz/die Moral.Vor dem Aufkommen des modernen Staates sorgte das traditionelle Herrschaftssystem für eine Bewahrung der "natürlichen Ordnung" der Dinge, verkörpert in der Moral und den allen Einwohnern gemeinsamen Traditionen, welche ihr Verhalten regulierten. Moral und Traditionen überlagerten sich mit dem religiösen Gesetz, das eine gesellschaftliche Angelegenheit darstellte. Die Rolle des Herrschaftssystems war mithin beschränkt auf eine Pflege der "natürlichen Ordnung" sowie auf die Gewährleistung ihres Fortbestands und ihres Erhalts.Mit dem Beginn der osmanischen Reformen aber sollte der Staat in zunehmendem Maße versuchen, sich der Rechtsgewalt in allen Belangen zu ermächtigen, diese der Gesellschaft zu entziehen und sie zu einem Feld zu machen, das alleine ihm vorbehalten war. Dieser Prozess erreichte seinen Höhepunkt nach dem Ende der Kolonialherrschaft, welche ihrerseits bereits zuvor die Rechtsgewalt in vollem Maße der Gesellschaft entrissen hatte, bis der Staat sogar eine Beschlagnahme der religiösen Stiftungen (Auqaf) und deren Verstaatlichung veranlasste, eben jener Auqaf, die die Unabhängigkeit der religiösen Institutionen garantiert hatten, welche über alle Angelegenheiten des religiösen Rechts und der sittlichen Gesetze gegenüber dem Staat gewacht hatten.Der postkoloniale Staat aber beließ es nicht bei einer Beschlagnahme des Rechts, sondern war bestrebt, ein weit tiefer reichendes Ziel zu verwirklichen, nämlich eine Revolutionierung von Werten und Moralvorstellungen sowie eine Abschaffung aller "reaktionären" Werte und Traditionen. Die moralische Ordnung der Gesellschaft im Visier: Seine Legitimierung fand dieses Projekt in der Ideologie der Modernisierung, die den Staat als revolutionäres und fortschrittlichstes Instrument betrachtete, um die rückständische Gesellschaft zu verändern und zu erneuern. Auf dieser Grundlage nahm der Staat die moralische Ordnung der Gesellschaft ins Visier, in dem Bestreben, diese auf eine kleinstmögliche Nische zu beschränken – etwa in Form von Angelegenheiten des persönlichen Status und Familienrechtsfragen, welche der Scharia, dem religiösen Recht, überlassen blieben.Parallel dazu gestaltete der Staat das Gesetzeswerk aus, das die Belange der Allgemeinheit regeln sollte, und erlegte diesem auf, das revolutionäre Instrument schlechthin zur Modernisierung der Gesellschaft zu sein, was wiederum bedeutete, dass die Gesellschaft in Bezug auf ihr moralisch-ethisches Wertesystem fortan nicht mehr unabhängig vom Staat sein konnte. Dieser ganze Prozess war per se sicher nicht nur negativ, bestand sein erhofftes Ziel doch einerseits in einer Rationalisierung des Gesetzes und der Moral und andererseits in deren Überführung unter staatliche Autorität. Rationalisierung und Wachstum bildeten den Rahmen des Bildes, von dem die Theoretiker der Modernisierung träumten, die vom Idealmodell beeinflusst waren, welches die westlichen Staaten boten. Da aber "die Berechnung des Feldes nicht der Größe der Tenne entspricht", war es unseren Staaten nicht vergönnt, irgendetwas von diesem erhofften und imaginierten Bild zu erreichen. Im Gegenteil, der Staat verkam zu einer hässlichen Missgeburt. Denn die postkolonialen arabischen Staaten begründeten keine moralisch-rechtliche Autorität, die ihr eigenes Handeln und ihre internen Konflikte hätte kontrollieren können, da die herrschenden Eliten bei der Festigung der Säulen ihrer Hegemonie und Macht sich auf nackte Gewalt und den Fanatismus ihrer Partikulargemeinschaften stützen. Machtbeziehungen sind zum inoffiziellen Regulativ bei der Vergabe von Einfluss und Reichtum geworden, neben einem schriftlich fixierten Gesetzeskanon, dem niemand Beachtung schenkt. Dergestalt konnte der Staat einerseits seinen Gefängnis-Aufsehern und Sicherheitsorganen freien Lauf lassen und andererseits in einen Zustand allgemeiner Korruptheit und Korrumpierung verfallen, in dem Bestechung an der Tagesordnung ist und Diebstahl sogar als tüchtig gilt. Der arabische Staat in Auflösung: Das Erkennungsmerkmal des arabischen Staates, wie Michel Seurat es im damaligen Syrien sah, ist nicht seine Präsenz, sondern vielmehr seine Abwesenheit. Und dies, wenn wir den Staat verstehen als Ausdruck eines Gebildes, das sich um ein Gesetz organisiert, auch wenn dieses fehlerhaft, unzureichend und unrechtmäßig sein mag. In unserer gegenwärtigen Lage jedoch fehlt ein Gesetz oder jedwede andere institutionelle Form, die „fanatisches Stammesdenken“ und skrupellose Gewalt in ihre Schranken weisen könnte. Das Tragische aber ist, dass die Gesellschaft ohne ein eigenes moralisches System zurückgelassen wurde, welches gleichbedeutend mit einer Autorität wäre, bei dem sie Zuflucht suchen könnte, um ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln und dies unabhängig und losgelöst vom Staat – insbesondere in Zeiten, da dieser sich im Zustand der Auflösung befindet oder in Agonie verfällt. Der Inhalt von Standards und Regeln ist dabei gar nicht einmal von Bedeutung, gleichgültig, ob diese nun unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit entsprechen oder nicht. Worauf es ankommt, ist, dass es solche moralischen Maßstäbe als Referenzpunkt überhaupt gibt, und dies eben unterscheidet die vorkolonialen Gesellschaften von den postkolonialen Staaten. Heute aber besitzen diese Gesellschaften keinerlei moralische Autorität mehr, auf die sie sich in ihrem Verhalten stützen könnten, weshalb sie in der Konfrontation mit dem Staat schon lange vollkommen entblößt und roh auftritt. Gleichzeitig aber verfügt der barbarische Staat über keinerlei Gesetz oder Moral, um die eigenen Gesellschaften zu versorgen – er hat nichts, was er ihnen geben könnte. Und somit ist es ihm gelungen, eine Gesellschaft nach seinem Vorbild und Antlitz zu schaffen. Morris Ayek | © Qantara.de 2017 | Aus dem Arabischen von Markus Lemke | Der syrische Publizist Morris Ayek studierte Wissenschaft- und Technikphilosophie an der TU München. Zuvor hat er einen Master-Abschluss in Elektro- und Informationstechnik an der TUM erwerben.

Furcht vor Veränderung

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Um demokratischen Umbrüchen in den Ländern des Arabischen Frühlings einen Riegel vorzuschieben, bedienen sich die Herrschaftseliten einer Mischung aus Unterdrückung durch den allgegenwärtigen Sicherheitsapparat und dem Schüren von Angst in der Bevölkerung vor dem Abgleiten in Bürgerkrieg und Chaos. Von Amr Hamzawy | Das gegenwärtige arabische Herrschaftssystem offenbart ein folgenschweres Paradoxon, das im Nichtvorhandensein gesellschaftlicher Herausforderungen besteht, mit denen sich die herrschenden autoritären Regime konfrontiert sehen. Das ist erstaunlich – angesichts der offensichtlichen Schwäche, die diese Herrschaftseliten bei sozialen und wirtschaftlichen Leistungen an den Tag legen. Die Bilanz ihrer Erfolge in punkto Wachstum und Entwicklung fällt schließlich verheerend aus. So bewegen sich zum Beispiel – die Golfstaaten einmal ausgenommen – die Armuts- und Arbeitslosigkeitsraten sowie die Analphabetenquote in der gesamten arabischen Welt unverändert auf einem Höchststand, während das Niveau öffentlicher Leistungen in entscheidenden, lebenswichtigen Bereichen wie Schul- und Hochschulbildung, Gesundheit und der sozialen Absicherung zur Unterstützung von Einkommensschwachen, Armen und Alten einen nie dagewesenen Tiefstand erreicht haben. Ebenso gilt unverändert das Versagen der herrschenden autoritären Strukturen bei ihrem Kampf gegen gefährliche, um sich greifende Phänomene wie Korruption, Günstlingswirtschaft und Missbrauch öffentlicher Ämter, die einer wirklichen Entwicklung entgegenstehen und diese verhindern. Gleiches gilt für das beinahe vollkommene Fehlen von Transparenz und Rechenschaftspflicht als Prinzipien, welche die Arbeit öffentlicher und privater Körperschaften bestimmen und leiten sollten. Fehlende gute Regierungsführung: Wir stehen hier vor einer autoritären Herrschaft, die der Rechtmäßigkeit ihrer Amtsführung entbehrt, und dies im Sinne der damit einhergehenden Verpflichtung zu Entwicklung und in Bezug auf alle Inhalte, die sich mit Good Governance in Verbindung bringen ließen. Ja, wir haben es mit einer autoritären Herrschaft zu tun, deren Eliten mit eiserner Faust über den Staat, die Gesellschaft und die Bürger herrschen, auf politischem Feld keinen echten Wettbewerb zulassen und (in unterschiedlichem Maße) die Freiheiten und Rechte der Menschen auf Meinungsäußerung, Selbstorganisation und Beteiligung an öffentlichen Belangen einschränken und begrenzen.Doch ungeachtet all dessen sehen sich die Herren Diktatoren in beinahe allen arabischen Staaten nicht mehr im größeren Ausmaß von ihren Gesellschaften ernsthaft herausgefordert, weshalb sie lediglich umfangreiche, jedoch kaum aufwendige Unterdrückungsmaßnahmen einleiten müssen, um die Kontrolle zu behalten. Das Paradox liegt mithin in der bemerkenswerten Art und Weise, in der die gesellschaftspolitische und ökonomische Unfähigkeit der herrschenden arabischen Eliten und der daraus resultierende Verlust einer Legitimierung ihres Handelns einhergeht mit einer nachgerade beruhigenden und unbeschwerten Stabilität und Kontinuität ihrer autoritären Herrschaft. Überwachung und Unterdrückung: Um dieses Paradoxon einer Analyse zu unterziehen, lassen sich eine Reihe von Ansätzen zu Hilfe zu nehmen, welche Politologie und Soziologie liefern: Der Kern des ersten Ansatzes besteht in einer Analyse des Handelns der militärischen, polizeistaatlichen und geheimdienstlichen Organe, die in den arabischen Ländern zweifelsohne aufgewertet werden und Finanzmittel beanspruchen, die einen kontinuierlich wachsenden Anteil des Staatshaushaltes ausmachen. Die Rolle der Sicherheitsorgane scheint dabei nicht auf eine Überwachung und Verfolgung oppositioneller Kräfte beschränkt und auf die Verwendung des üblichen Arsenals an Unterdrückungswerkzeugen gegen jeden, den die herrschenden Eliten als Ausgangspunkt einer bereits vorhandenen oder in Zukunft möglichen Bedrohung ihrer Herrschaftsansprüche betrachten, sondern geht unstreitbar darüber hinaus. Denn den Sicherheitsorganen geht es vor allem darum, ihrer eigenen Logik in Staat und Gesellschaft zu folgen – angefangen bei der Einschränkung der Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gewerkschaften und dem Aufzeigen roter Linien in Hinblick auf die Medien- und Pressefreiheit. Ein weiteres Indiz wäre auch die Einflussnahme auf den Charakter des auf nationaler und lokaler Ebene zur Anwendung kommenden Wahlsystems – etwa in Form einer Zerstückelung der Wahlbezirke, und schließlich und endlich gar eine Modifizierung von Verfassungs- und Gesetzesartikeln, welche unmittelbar die politischen und zivilen Rechte regeln.Heutzutage haben militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Institutionen das letzte Wort bei der Einflussnahme auf die Herrschaftseliten. Sie genießen eine Exekutivstellung, deren Wirken den aller anderen Exekutivorgane übersteigt, seien es Ministerien oder Fachbehörden. Zudem hat die Repräsentanz von Militärs und Sicherheitsvertretern in der staatlichen Bürokratie und deren Organen stark zugenommen. Dies trifft insbesondere bei der Übertragung von Leitungsaufgaben in den Provinzen und auf lokaler Ebene zu. Und letztlich hat es der Führung der Sicherheits- und Nachrichtendienste ein engmaschiges und durchdringendes Netz beschert, das es zum einen den Bürgern erschwert, sich in organisierter Form dem autoritären Herrschaftssystem entgegenzustellen. Und zum anderen hat es den Herrschaftseliten die Möglichkeit eröffnet, dieses Netz zu nutzen, um entweder ihre autoritäre Herrschaft zu zementieren (wie zum Beispiel in Algerien) oder aber diese neu zu begründen, wie es in Ägypten nach 2013 der Fall war. Der Marsch durch die Institutionen: Einer Analyse des Vordringens der militärischen, polizeilichen, geheimdienstlichen und sonstigen Sicherheitsorgane sollte ein zweiter Ansatz folgen, dessen Augenmerk auf einer Bestandsaufnahme der Konsequenzen liegt, die das Bestreben der herrschenden arabischen Eliten zeitigt. Also, die Folgen der Personifizierung und Konzentration ihrer Macht, um eine zahlenmäßig kleine Gruppe mit einheitlichen Interessen zu unterdrücken. In diesem Kontext geht es um all jene Machtkämpfe, wie sie mit Blick auf die jüngere Weltgeschichte in einigen Fällen zum Zusammenbruch von autoritären Herrschaftsmodellen geführt haben oder zum Katalysator demokratischer Veränderungen wurden, zumindest aber deren Anfänge begünstigen konnten. Hinter der scheinbar pluralistischen Fassade einiger der herrschenden arabischen Eliten, lässt sich dort dennoch eine auffällige Konstanz ausmachen, was die Personalien derjenigen angeht, die tatsächlich mit der Machtausübung betraut sind, sowie deren permanente Rotation durch verschiedene Regierungsämter, was wiederum einer immer gleichen Logik folgt.Während zum Beispiel für Jordanien gilt, dass die Besetzung eines Ministeramts oder eines wichtigen Postens in der Armee oder bei den Sicherheitsorganen nicht erfolgen kann, ohne dass hierbei die Namen einer sehr begrenzten Anzahl einflussreicher Familien fallen, werden die Schaltstellen der Macht in Algerien und Ägypten von den immer gleichen, bekannten Persönlichkeiten besetzt. Dies lässt sich sowohl in der Legislative, Exekutive sowie in bestimmten Machtpositionenvon Regierungsparteien feststellen. Hierbei handelt es sich um Posten, die diese Politiker entweder niemals verlassen haben (wie etwa in Algerien) oder bei denen man (wie in Ägypten zum Beispiel) über Jahrzehnte hinweg die verschiedenen Stadien ihrer Rotation von einer Position zur nächsten verfolgen kann – entsprechend der Einschätzung, welche die Eliten zu den Umständen einer bestimmten Zeit haben, und gemäß persönlicher Verdienste. Angst schüren vor Chaos und Anarchie: Der dritte Ansatz indes, den wir bemühen können, um die Beständigkeit autoritärer Herrschaft in den arabischen Staaten zu ergründen, dreht sich um das Interesse, das die herrschenden arabischen Eliten – ungeachtet der Tatsache, dass sie ihre Herrschaftslegitimation längst eingebüßt und sich als unfähig erwiesen haben, ihrer gesellschaftlichen Aufgabe zu entsprechen – auf offizielle Reden verwenden, um die zumeist wirtschaftlich darbenden Einwohner ihres Landes dazu zu bewegen, im Zweifelsfall ihre gescheiterten Regenten zu behalten und Forderungen nach einer demokratischen Veränderung abzulehnen. Die Eliten beschäftigen hierfür ihre religiösen und medialen Institutionen, die jedoch unzweideutig durch die Regierung verwaltet werden und in ihrer täglichen Arbeit und Praxis durch diese dominiert sind. Dies geschieht in der Absicht, einen fortdauernden Wahrnehmungsmoment in der kollektiven Phantasie zu schaffen, wonach die Forderung nach Veränderung gleichbedeutend mit einer Bedrohung der allgemeinen Ordnung erscheint, das Land in den Abgrund eines gewaltigen Chaos zu stoßen. Kein Zweifel, das die Überzeugungskraft solcher offiziellen "Angstmachen-vor-Veränderung-Reden" nicht losgelöst ist vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und der Nationalstaaten in Syrien, Libyen, dem Jemen und im Irak ist oder im Zusammenhang mit dem Scheitern der oppositionellen Kräfte in jenen Ländern steht. Dergestalt erweisen sich diese Kräfte als unfähig, eine programmatische Vorstellung von Veränderung zu entwickeln, die sowohl klare Umrisse hat, als auch den Bürgern mehr Zuversicht und politisches Vertrauen schenkt. Amr Hamzawy | © Qantara.de 2017 | Amr Hamzawy ist ein renommierter ägyptischer Publizist, Menschenrechtler und Politikwissenschaftler. Nach dem Sturz Mubaraks 2011 wurde er Vorsitzender der "Partei Freiheitliches Ägypten", das sich als Teil des oppositionellen Bündnisses "Die Revolution geht weiter" verstand. 2012 wurde Hamzawy als Abgeordneter des Kairoer Stadtteils Heliopolis ins Parlament gewählt. Er war ferner Mitglied des "Egyptian National Council for Human Rights". | Aus dem Arabischen von Markus Lemke

"Wir sind mitten in einer islamischen Reformation"

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Wie muss man die Scharia verstehen, damit sie zum säkularen Staat passt? Mit dieser Frage hat sich der renommierte Islamgelehrte Abdullahi Ahmed An-Na'im beschäftigt. Ein Gespräch mit Claudia Mende über die Trennung von Staat und Religion und warum die Reformation im Islam für ihn schon längst begonnen hat. | Scharia in einem säkularen Staat – ist das nicht ein Widerspruch in sich? | Abdullahi Ahmed An-Na'im: Nicht unbedingt, denn die Frage ist doch, was wir darunter verstehen. Viele Menschen denken bei Scharia an Rechtsvorschriften, aber es handelt sich um das gesamte normative System des Islam, so wie es im Koran, der Sunna und den Hadithen dargelegt ist. Die Scharia enthält also auch Regelungen dazu, wie man betet oder fastet. So verstanden, ist es auch in einem säkularen Staat unmöglich, Muslimen zu verweigern, dass sie sich daran orientieren. Aber ein Staat, egal ob mehrheitlich muslimisch oder nicht, kann niemals die Inkraftsetzung der Scharia verfügen, denn es handelt sich nicht um kodifiziertes Recht. Es geht um Interpretationen, die Menschen aus eigener Überzeugung auswählen sollten. Was ist dann Scharia in Ihren Augen? | An-Na'im: Die Scharia ist eine ethische Handlungsanweisung für den einzelnen Muslim. Staat und Religion sollten klar voneinander getrennt sein. Für mich als Muslim muss der Staat säkular sein, damit ich meinen Glauben ausÜberzeugung und freier Entscheidung praktizieren kann. Also aus einer islamischen Perspektive, das hat nichts mit europäischer Aufklärung zu tun. Es geht den Staat nichts an, ob ich Atheist oder Gläubiger bin. Die Scharia enthält auch Rechtsvorschriften, trotzdem ist sie kein Gesetzbuch. | An-Na'im: Scharia ist ihrer Natur nach nichts, was man kodifizieren kann. Jede Kodifizierung würde die Komplexität einer langen Tradition mit einer Fülle sich widersprechender Meinungen auf eine simple Betrachtungsweisereduzieren. Diese würde dann nur noch die Meinung derjenigen wiedergeben, die gerade die Macht im Staat besitzen. Zwar beharren Staaten von Marokko, Mauretanien bis nach Indonesien darauf, die Scharia umzusetzen, aber das ist nicht legitim. Denn staatliche Behörden wählen überall in einer höchst selektiven Weise Vorschriften aus, anstatt dass Muslime sich selbst entscheiden dürfen.Wenn Staat und Religion klar zu trennen sind, welche Rolle kann dann Religion im öffentlichen Leben spielen? | An-Na'im: Ich unterscheide zwischen Staat und Politik. Der Staat hat nichts mit Religion zu tun, aber in der Politik ist sie sehr wohl relevant. So wie etwa die CDU in Deutschland ihre politischen Überzeugungen als christlich inspiriert versteht. Ob Sie nun die Scharia aus der Politik verbannen oder nicht, sie wird weiterhin die Richtschnur für das politische Handeln von Muslimen sein. Wer das verhindern will, entrechtet Muslime. Warum hat das nichts mit dem europäischen Konzept eines säkularen Staates zu tun? | An-Na'im: Als Muslime vor 1.400 Jahren ihrenersten Staat in Medina gründeten, war dieser weder islamisch noch religiös. Dieser Staat war eine politische Institution, weder die Muslime selbst noch ihre Gegner beschrieben ihn als einen religiösen Staat. Das Konzept des islamischen Staates ist ein post-koloniales Konstrukt, das den europäischen Nationalstaat mit der Idee muslimischer Selbstbestimmung verbindet. Es geht eben nicht alles auf der Welt auf die Aufklärung und europäische Vorstellungen des Säkularen zurück! Also hat das Säkulare verschiedene Gesichter? | An-Na'im: Nach französischen Maßstäben würde Deutschland nicht als säkular gelten. Großbritannien, wo die Königin gleichzeitig Oberhaupt der "Church of England" ist, würde noch nicht einmal nach deutschen Standards als säkularer Staat durchgehen und trotzdem bezeichnet man alle drei als säkulare Staaten. Dass der säkulare Staat aus der Aufklärung hervorgegangen sei, ist eine grobe Vereinfachung, die sich nicht in der europäischen Geschichte belegen lässt. Aber der Nationalstaat ist ein europäisches Konstrukt, das den Kolonisierten in Afrika und Asien aufgezwungen wurde. Nach ihrer Unabhängigkeit fanden sich Muslime im europäischen Nationalstaat wieder, der nicht ihrer Kultur und ihren Werten entsprach. Europäische Mächte haben ihn willkürlich aufoktroyiert und die tragischen Konsequenzen dessen sehen wir heute in Syrien und im Irak.Es ist aber keine Folge des Kolonialismus, wenn in diesen Ländern bis heute der Islam Staatsreligion ist. | An-Na'im: Nein, das ist es nicht. Aber was bedeutet es, wenn der Islam Staatsreligion ist? Für viele Gesellschaften ist religiöse Identität ein zentrales Merkmal, aber es hat keine rechtlichen Konsequenzen. Davon mal abgesehen, dass es auch nicht-muslimische Länder mit einer Staatsreligion gibt wie etwa Irland. In Pakistan, Iran und Mauretanien ist der Islam Staatsreligion, aber es handelt sich um ganz unterschiedliche Staaten. Es bedeutet doch, dass keine Trennung zwischen Staat und Religion existiert. | An-Na'im: In der ägyptischen Verfassung heißt es in Artikel 2, dass der Islam Staatsreligion ist. Aber in den übrigen Artikeln der Verfassung gibt es keinen Bezug auf diese Tatsache. Artikel 2 ist ohne Bedeutung, er ist Propaganda, eine Art, den Staat zu legitimieren, aber ohne legale Konsequenzen. Ägypten wird durch ein Militärregime regiert, das den gewählten Präsidenten der Muslimbrüder gestürzt hat. Seine Anhänger sind im Gefängnis und werden wegen politischer Verbrechen exekutiert. Das Militär hat den Staat übernommen, obwohl Artikel 2 immer noch in der Verfassung steht. Es ist eine starke Allianz zwischen dem Staat und den religiösen Institutionen entstanden, die vor allem den Machthabern dient. Eine Ihrer Forderungen lautet, Muslime sollten sich selbst vom Kolonialismus befreien. Was verstehen Sie darunter? | An-Na'im: Die Herzen und Hirne von Muslimen sind noch immer von europäischer Erkenntnislehre und Philosophie, von europäischen Konzepten für die Verwaltung eines States besetzt, obwohl sie seit Dekaden nominell unabhängig sind. Kolonialismus ist eben nicht nur eine militärische Besetzung, er ist ein Geisteszustand für Kolonisierte wie für die Kolonisatoren. Wer besetzt wurde, trägt selbst dazu bei, sich den kolonialen und neokolonialen Prioritäten zu unterwerfen. Ich muss als Muslim meinen eigenen Geist, mein Herz und meine Seele befreien, um wieder zu einer eigenständigen Person zu werden. Damit lehne ich aber nicht die Einflüsse europäischer oder amerikanischer Kultur ab. Was bedeutet das etwa für die Debatte um einen säkularen Staat? | An-Na'im: Solange wir europäische Modelle imitieren, sind wir nicht wirklich vom Kolonialismus befreit. Wir müssen unsere Politikmodelle in der eigenen Geschichte verwurzeln, indem wir versuchen, die Bedeutung islamischer Geschichte in verschiedenen Epochen und Regionen zu entschlüsseln. Ich will nicht das deutsche, französische oder britische Modell imitieren. Ich formuliere meine politische Doktrin in Begrifflichkeiten, die jenseits einer europäischen kolonialen Begrenzung liegen."Towards an Islamic Reformation" lautet der Titel eines Ihrer Bücher. Heute ist es fast schon Mode für islamische Intellektuelle, nach einer Reform des Islam zu rufen. Sie verbinden aber durchaus Unterschiedliches damit. | An-Na'im: Deshalb ist es wichtig herauszuarbeiten, was man darunter versteht. Die europäische Reformation ist viel komplexer als nur die Geschichte von dem Mönch, der einigeForderungen an eine Kirchentür nagelt. Transformative Bewegungen brauchen eine lange Zeit und sie sind Teil eines Konsenses, der über mehrere Generationen entsteht. Die Menschen, die damals lebten, wussten nicht, dass sie Teil der christlichen Reformation sind. Ebenso wenig diejenigen, die die Französische Revolution erlebten. Erst rückblickend kann man diese Prozesse erkennen. Was bedeutet das für die Erneuerung des Islam? | An-Na'im: Bei der muslimischen Reformation handelt es sich um einen ähnlichen Prozess. Die rund 1,6 Milliarden Muslime leben eine große Bandbreite von Glaubensrichtungen. Es ist nicht wie bei einem Auto, wo man den Schlüssel in die Zündung steckt und dann startet die Reform. Vielmehr sind zahlreiche Ideen im Umlauf, die auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen. Manche Vertreter von Reformansätzen müssen das mit ihrem Leben bezahlen, das ist leider häufig so in der Geschichte. Heißt das, wir sind mitten in einer islamischen Reformation? | An-Na'im: Ja, wir reden darüber und deshalb sind wir mittendrin. Denn Muslime stören sich zunehmend an manchen Aspekten eines traditionellen Verständnisses von Islam wie fehlenden Frauenrechten oder mangelnder religiöser Freiheit. Als ich vor mehr als 40 Jahren an der Universität Khartum studierte, fühlte ich mich zu demokratischen Prinzipien und Menschenrechten hingezogen, aber das Verständnis von Scharia in unseren Lehrveranstaltungen stand dem entgegen. Die Tatsache, dass ich einen Bedarf an Reform verspürte, gehört schon zu diesem Prozess. Wir sind mitten in einem transformativen Prozess, den wir Reformation nennen. Das Interview führte Claudia Mende. | © Qantara.de 2017

Was das Recht in Ägypten wert ist

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Die zunehmende Anzahl von Hinrichtungen nach unfairen Gerichtsverfahren zerstört das Vertrauen in Ägyptens Rechtswesen. Einzelheiten von Sherif Mohy Eldeen | Am 7. Juni hat das Kassationsgericht – das höchste Gericht Ägyptens – das Todesurteil über sechs junge Männer aus al-Mansura bestätigt, die seit 2014 in Haft sind. Dieses Urteil reiht sich in eine Vielzahl von Hinrichtungen ein: Von 15 Hinrichtungen im Jahr 2014 und 22 Hinrichtungen im Jahr 2015 stieg die Zahl auf 44 im Jahr 2016. Dagegen gab es in den Jahren 2012 bis 2013 überhaupt keine Hinrichtungen. Unter dem ehemaligen Staatspräsidenten Hosni Mubarak waren es etwa vier pro Jahr. Unter Mubarak ergingen die meisten Todesurteile aufgrund von Mord oder Drogendelikten. Sie wurden jedoch nur selten vollstreckt. Seit dem Militärputsch im Juli 2013 sind die meisten Verurteilten Demonstranten, denen zur Last gelegt wurde, an der Bildung terroristischer Zellen beteiligt gewesen zu sein und die nationale Sicherheit bedroht zu haben. Laut Amnesty International handelte es sich zwischen 2014 und 2016 um insgesamt 1.284 Personen. Im Jahr 2013 waren es 109 und unter der Herrschaft des ehemaligen Staatspräsidenten Mubarak etwa 180 pro Jahr. Gemessen an den Umständen und der Schwere der Anschuldigungen unterscheiden sich die einzelnen Fälle signifikant voneinander. Allen gemeinsam ist aber die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren. Unter Verschluss der Geheimdienste: Die meisten Fälle beruhen auf Ermittlungen der "Behörde für Nationale Sicherheit", also des Inlandsgeheimdienstes, der vor der Revolution im Januar 2011 als Staatssicherheitsbehörde SSIS bekannt und berüchtigt war und der Regierung seit langem als Waffe zur Unterdrückung der politischen Opposition dient. Die von dieser Behörde eingebrachten Fälle beruhen häufig auf vertraulichen Quellen, die von den Geheimdienstmitarbeitern bis zum Schluss des Verfahrens nicht offengelegt werden. Meist werden daher Todesstrafen und lebenslange Haftstrafen unter Bezug auf Quellen verhängt, die nur dem Geheimdienst bekannt sind – nicht einmal den Richtern selbst.Der Fall der "Sechs aus Al-Mansura" und die Bestätigung des Todesurteils durch das Kassationsgericht am 7. Juni sind dafür ein treffendes Beispiel. Nach Prüfung der Verfahrensunterlagen stellte das in der Schweiz ansässige "Committee for Justice" in einem entlarvenden Bericht zu diesem Fall acht verschiedene Verstöße fest. Einige Angeklagte gaben an, ohne Haftbefehl festgenommen, gefoltert und zu Geständnissen gezwungen worden zu sein. Umstände und Zeitpunkt der Festnahmen weichen stark von den amtlichen Berichten ab. Nach ihrer Verlegung aus den Gefängnissen des Geheimdienstes in reguläre Haftanstalten widerriefen die Angeklagten ihre Geständnisse. Hierzu muss man wissen, dass in den Gefängnissen des Geheimdienstes bis heute zahllose Personen ohne Haftbefehl einsitzen. Auch wird dort häufiger gefoltert als etwa in regulären Haftanstalten. Die mutmaßlich erzwungenen Geständnisse wurden allerdings auf Video aufgenommen und vom Innenministerium noch vor Abschluss der Untersuchungen ausgestrahlt. Die Angeklagten durften sich während der Vernehmungen keinen Rechtsbeistand nehmen. Und die Anklage der Staatsanwaltschaft beruhte auf vertraulichen Quellen, ebenso wie die maßgeblichen Beweise im Strafprozess. Diese Quellen wurden zu keiner Zeit während der Verhandlung offengelegt. Petition gegen Todesstrafe: Wegen der Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren sammelten Aktivisten in einer Online-Petition über 15.000 Unterschriften gegen die Hinrichtung der Angeklagten und baten den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, sein Recht auf Umwandlung der Todesstrafe wahrzunehmen – jedoch ohne Erfolg. Al-Sisi ernannte stattdessen Magdy Abul Ela zum Präsidenten des Kassationsgerichts. Abul Ela war der Richter, der im Berufungsverfahren gegen das Urteil im Fall Al-Mansura den Vorsitz innegehabt hätte, den diesbezüglichen Antrag der Verteidigung jedoch abwies.Dies allein war bereits ungewöhnlich, da das Kassationsgericht seit Juli 2013 üblicherweise Rechtsmittel gegen Todesurteile zulässt, die offensichtlich aus politischen Gründen verhängt wurden. Die Verfahrensfehler im Fall Al-Mansura sind bezeichnend für eine gängige Praxis in Hunderten ähnlich gelagerter Fälle seit dem Militärputsch vom 3. Juli 2013. Dies gilt sowohl für Zivil- als auch für Militärgerichte, wobei letztere seit 2014 eine immer größere Bedeutung gewinnen und bereits Tausende von Zivilisten abgeurteilt haben. Die meisten dieser Verfahren beruhen auf nicht vorgelegten oder unzureichenden Beweismitteln. Beispielhaft dafür ist das Militärverfahren gegen sieben mutmaßliche Attentäter, denen ein Anschlag auf einen Bus einer Militärschule im Stadion von Kafr al-Scheikh zur Last gelegt wird. Der Oberste Militärgerichtshof für Berufungsverfahren in Kairo bestätigte am 19. Juni das Todesurteil, obwohl die Militärermittler zugaben, dass "die Identität der Täter nicht herausgefunden werden konnte, da es am Tatort keine Überwachungskameras gab und ... da es mit einer angrenzenden Kamera aufgrund der Entfernung und der Sichtachse schwierig war, die Täter zu erkennen." Einer der zum Tode verurteilten Angeklagten war der Lehrer Fakih Abdel-Latif aus Kafr al-Scheikh. Die ägyptische "Initiative für Persönlichkeitsrechte" legte als unabhängige NGO eine amtliche Erklärung des Provinzschulbezirks vor, aus der hervorging, dass der Angeklagte am 15. April 2015 während der gesamten Zeit an seiner Schule war. Dies widerspricht der Darstellung des Militärstaatsanwalts, der behauptete, Abdel-Latif sei während des Anschlags am Tatort gewesen. Auch die Angeklagten im Fall Arab Sharkas wurden hingerichtet, obwohl lokale NGOs nachgewiesen hatten, dass mindestens drei der sechs Angeklagten zur mutmaßlichen Tatzeit vom Innenministerium an geheimen Haftorten festgehalten worden waren. Politisch motivierte VergeltungsmaßnahmenNeben den systematischen Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren gibt es zahlreiche weitere Anhaltspunkte dafür, dass Todesurteile und Hinrichtungen politisch motivierte Vergeltungsmaßnahmen sind. So folgte beispielsweise die Hinrichtung der sechs jungen Angeklagten im Fall Arab Sharkas am 17. Mai 2015 einen Tag nach dem Angriff auf Richter in Al-Arish, einem Ort auf der nördlichen Sinai-Halbinsel. Ohne die Familien vorher zu benachrichtigen, erfolgte die Hinrichtung trotz eines anhängigen Einspruchs gegen das Urteil, wonach ein Verwaltungsgericht gerade dabei war, die Aussetzung der Vollstreckung zu verfügen. Offenbar ist dem Sisi-Regime im Fall Arab Sharkas aber mehr daran gelegen, hartes Durchgreifen zu demonstrieren. Der Fall Adel Habara weist in die gleiche Richtung: Bei einem Angriff auf der Sinai-Halbinsel am 19. August 2013, der als "zweites Massaker von Rafah" traurige Bekanntheit erlangte, wurden 25 Soldaten getötet. Adel Habara wurde als mutmaßlicher Kopf des Attentats am 15. Dezember 2016 hingerichtet – vier Tage nach einem Selbstmordattentat auf die Kirche St. Peter und Paul im Herzen Kairos, wo 29 Menschen ums Leben kamen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Untersuchungen über den Hergang und die Urheber des Attentats noch nicht abgeschlossen. So scheint auch diese Hinrichtung eine Vergeltungsaktion des Regimes von el-Sisi zu sein. Die Missachtung des Rechts auf ein faires Verfahren hat in Tausenden von Fällen zur Verhängung hoher Strafen bis hin zu Todesurteilen geführt. Nicht die Polizei führt die Untersuchungen durch, sondern der Inlandsgeheimdienst. Das lässt den Schluss zu, dass es mehr um Abschreckung und Einschüchterung geht als um Rechtsprechung. Mubarak unterdrückte Ägypten mit harter Hand. Dennoch konnte sich die Judikative eine gewisse Unabhängigkeit bewahren und genoss daher noch ein gewisses Vertrauen. Heute sind die rechtswidrigen Verfahren, die harten Urteile und die schnellen Hinrichtungen ohne vorherige Benachrichtigungen der Angehörigen dazu angetan, den Rest an Vertrauen, den die Ägypter in ihr Rechtswesen und in ihre Regierung haben, vollends zu zerstören. Sherif Mohy Eldeen | © Sada/Carnegie Endowment for International Peace 2017 | Sherif Mohy Eldeen forscht auf den Gebieten Terrorismusbekämpfung, Sicherheit und politische Soziologie. | Aus dem Englischen von Peter Lammers

Die Profiteure des Terrors

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Mit massiven Rüstungsexporten stärkt Deutschland die Autokraten im Nahen Osten. Aus wirtschaftlichen Interessen wird damit eine kurzsichtige Politik betrieben, schreibt Markus Bickel in seiner faktenreichen Analyse "Die Profiteure des Terrors". Von Claudia Mende | Im Jahr 2011 fegte eine Welle von Protesten die Diktatoren in Tunesien und Ägypten aus ihren Ämtern. In den Hauptstädten des Westens gab es einen kurzen Moment des Erschreckens darüber, wie fragil die für stabil gehaltenen Regime waren. Sollte man in Zukunft wohl besser die Kräfte aus der Zivilgesellschaft stärken statt der Autokraten, die für Friedhofsruhe sorgen? Sechs Jahre ist das jetzt her, die Demokratiebewegung ist fast überall gescheitert. Alte und neue Diktatoren verkaufen sich wieder als Garanten für Stabilität und werden von Europa hofiert, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Die Autokraten brauchen Waffen und sie bekommen diese zunehmend auch aus Deutschland. Nur Russland und die USA verkaufen mehr Rüstungsgüter. Insgesamt wurden 2016 deutsche Rüstungsexporte in Höhe von 13 Milliarden Euro genehmigt, davon ging die Hälfte in sogenannte Drittstaaten außerhalb von Nato und Europäischer Union. Mit Saudi-Arabien, Algerien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten standen vier arabische Diktaturen unter den Top Ten der Empfänger deutscher Wehrtechnik. Dabei sehen die politischen Grundsätze für den Export von Waffen in Drittstaaten ausdrücklich vor, dass die "Lieferung von Kriegswaffen und kriegswaffennahen sonstigen Rüstungsgütern nicht genehmigt wird in Länder, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind" oder wo eine solche Auseinandersetzung droht. Laxer Umgang mit Leitlinien: Auch in Gegenden, in denen "bestehende Spannungen und Konflikte durch den Export ausgelöst, aufrechterhalten oder verschärft würden" soll Deutschland nach seinen eigenen Richtlinien keine Waffen liefern. Danach dürfte es keine Waffenlieferungen für Saudi-Arabien, Qatar, Ägypten oder die kurdischen Peshmergas im Irak geben. Aber in Zeiten des Kampfes gegen den Terror schaut niemand so genau auf Leitlinien. Begründen muss die Bundesregierung ihre Entscheidungen nicht.Markus Bickel, ehemaliger FAZ-Redakteur in Kairo und heute Chefredakteur des Amnesty Journals, gibt in seinem Buch einen detaillierten Überblick über deutsche Waffenexporte in die Region und ihre fatale Rolle bei der Eskalation von Konflikten. Denn die Lehren aus der Arabellion waren schnell vergessen. Heute heißt wieder die Devise, man müsse um einer vermeintlichen Stabilität jene Diktatoren unterstützen, die mit ihrer keineswegs neuen Mischung aus Repression und Unfähigkeit erst die Ursache für Spannungen und Konflikte schaffen. Kungelei mit der Junta: Eines der eindrücklichsten Beispiele, wie Deutschland die Autokraten unterstützt, bringt Bickel aus Ägypten. Als im Oktober 2011 Hunderte vor dem Gelände des staatlichen Rundfunks im Kairoer Bezirk Maspero demonstrierten, raste ein Armeefahrzeug in die Menge, es kamen zwölf Menschen ums Leben, das "Maspero-Massaker" war ein Wendepunkt für die ägyptische Opposition und ein Vorbote für die Rückkehr des Militärs auf die politische Bühne. Das verwendete Fahrzeug war ein Fahd-Radpanzer, Modell TH390, hergestellt vom deutschen Rüstungskonzern Thyssen. Deutschland hat den Sicherheitsapparat schon unter Mubarak aufgerüstet. Unter Abdel Fattah al-Sisi, dessen Unterdrückungssystem Mubarak noch in den Schatten stellt, haben die Rüstungsverkäufe noch zugelegt.Mit solchen gut recherchierten Details verdeutlicht Bickel anschaulich, was die nackten Zahlen konkret für die jeweiligen Länder bedeuten. Er schildert die Hintergründe der wichtigsten derzeitigen Konfliktherde von Syrien bis Libyen und Jemen bis Irak. Der Autor verdeutlicht gut lesbar, wie man sich selbst in die Tasche lügt, dass die verkauften Waffen nicht in die Hände Dritter gelangen könnten. So etwas wie die sogenannten Endverbleibserklärungen können sich wohl nur deutsche Beamte ausdenken. Darin müssen sich die Empfänger von Gewehren, Ausrüstung oder Munition verpflichten, die Ware nicht an Dritte weiterzuverkaufen. In gescheiterten Staaten wie Irak, Syrien oder Libyen sind solche Erklärungen sinnlos. Bald nach der Lieferung von G36-Gewehren an die kurdischen Peshmerga tauchten diese dann auch schon auf den Schwarzmärkten in Sulaimaniyya und Erbil auf. Teufelskreis der Militarisierung: Die Militarisierung der deutschen Außenpolitik hat für Bickel vor allem wirtschaftliche Gründe: Zu groß ist die Angst gegenüber anderen Nationen ins Hintertreffen zu geraten, wenn es um Riesenprojekte am Golf oder in Ägypten geht. Und so werden weiter Projekte angebahnt. Allein Siemens hat in 2015 einen Kaufvertrag über Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerke für Ägypten über rund acht Milliarden Euro abgeschlossen, es soll der größte Einzelauftrag aller Zeiten sein. Gegen Gasturbinen ist zwar prinzipiell nichts einzuwenden, doch jeder weiß, dass der völlig verschuldete ägyptische Staat diese Rechnung nie bezahlen wird. Über kurz oder lang wird hier wohl der deutsche Steuerzahler einspringen müssen.Ägypten sei einfach "too big to fail", meint Bickel, und wirft der deutschen Ägyptenpolitik seit dem Sturz von Mubarak "Prinzipienlosigkeit" vor, eine "augenzwinkernde Kumpanei" mit Al-Sisi, der inzwischen jede Form von Opposition unterdrückt. Übrigens hat das deutsche Innenministerium im Juli 2016 auch seine Kooperation mit dem ägyptischen Sicherheitsapparat verstärkt. Das Schweigen der deutschen Politik: Doch nicht nur gegenüber Al-Sisi schweigt die deutsche Politik. Ein weiteres unglückliches Kapitel deutscher Politik ist die Haltung zum Jemen-Konflikt. Kritik an Saudi-Arabien und den Golfstaaten, die mit ihrem Jemen-Feldzug die derzeit größte humanitäre Katastrophe in der Region auslösten: Fehlanzeige. Durch das Eingreifen der Allianz unter saudischer Führung sind neue Rückzugsräume für Al-Qaida und den IS entstanden, die man ja eigentlich bekämpfen will. Auch im Jemen sind deutsche Heckler und Koch-Gewehre sowie Bombenteile aus der Produktion einer Rheinmetall-Tochter aufgetaucht. Tatsächlich zeigt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte: Je mehr Waffen es in einem Land gibt, desto größer ist die Gefahr der Eskalation von Konflikten. Bestes Beispiel dafür ist der Irak, der in den 1980er Jahren vom Westen massiv aufgerüstet wurde, auch deutsche Firmen waren beteiligt. Sie lieferten etwa Komponenten für Giftgas. Nach dem Sturz von Saddam Hussein und dem Einmarsch der Amerikaner fielen 650.000 Tonnen Munition in die Hände des IS und ermöglichten ihm seinen Siegeszug im Juni und Juli 2014. Wozu dann wieder Waffen geliefert werden mussten, um die Dschihadisten zu stoppen. Ein Teufelskreis ist entstanden, aus dem es so schnell keinen Ausweg gibt, das weiß auch Bickel. Er verweist stattdessen auf "soft powers" wie Entwicklungshilfe und zivile Konfliktlösung und fordert, die Zivilgesellschaft besser zu unterstützen. Leider bleibt er beim Aufzeigen von Alternativen etwas vage. Aber in seiner Analyse führt Bickel eindrücklich die Widersprüche deutscher Politik im Nahen Osten vor. Claudia Mende | © Qantara.de 2017 | Markus Bickel: "Die Profiteure des Terrors. Wie Deutschland an Kriegen verdient und arabische Diktaturen stärkt", Westend Verlag 2017, 224 Seiten, ISBN: 9783864891526

Sufis als Störfaktor für Dschihadisten

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Die Sufis im Nordsinai sind den IS-Dschihadisten bereits seit einiger Zeit ein Dorn im Auge, da sie sich offen gegen die Kultur der Gewalt aussprechen. Es stellt sich daher die Frage, warum die ägyptischen Sicherheitskräfte die Drohungen nicht ernst genommen haben. Von Karim El-Gawhary | In den ägyptischen Medien wurden nun weitere schreckenserregende Details über den Anschlag auf die Moschee am vergangenen Freitag im Dorf Rawda im Nordsinai bekannt, bei dem nach offiziellen Angaben 305 Menschen, darunter 27 Kinder ums Leben kamen. Offensichtlich waren die Einwohner des Dorfes zuvor massiv von militanten Islamisten bedroht worden, ohne dass der ägyptische Sicherheitsapparat etwas unternahm. Beim Anschlag selbst hatten die Terroristen dann alle Zeit der Welt. Das ägyptische Nachrichten Onlineportal Mada Masr zitiert Anwohner und Augenzeugen, die übereinstimmend berichten, dass die Terroristen eine Dreiviertelstunde lang ungestört ihr blutiges Werk verrichten konnten. Zunächst betraten während der Predigt drei Bewaffnete den Gebetsraum, der Platz für 500 Menschen umfasst und begannen wild um sich zu schießen. Einigen wenigen Betenden gelang die Flucht durch die Fenster, bevor die Moschee schließlich vollkommen von bis zu zwei Dutzend Bewaffneten umstellt war. Jene, die dann noch drinnen überlebten, hatten sich unter den Leichen versteckt. Die Angreifer hatten so viel Zeit, dass sie sogar noch die umliegenden Häuser durchsuchten und dort alle Männer erschossen. Der Dorffriedhof wäre zu klein gewesen: Als sie sich schließlich zurückgezogen, zündeten sie die Autos im Dorf an, damit die Verletzten nicht abtransportiert werden konnten. Die ersten, die die Szene mit Autos erreichten, waren Einwohner des Nachbardorfes, die begannen, die Verletzten abzutransportieren. Später kamen auch wenige Krankenwagen, die bis zu fünf Verletzte pro Fahrzeug abtransportierten. Das einzige Krankenhaus in der Umgebung war vollkommen überfordert. Weitere 17 Menschen sollen dort gestorben sein. Angehörige brachten die Verletzten daraufhin in weiter entfernte Krankenhäuser am Suezkanal. Die hunderte Toten hatten die Dorfbewohner zunächst in Leichentücher gewickelt und in sie in die Moschee gebracht. Der Dorffriedhof wäre zu klein gewesen, um sie alle zu begraben. Daher wurde im Nachbardorf Mazar ein Massengrab ausgehoben. Inzwischen wurde bekannt, dass militante Islamisten im Dorf vor dem Anschlag Flugblätter verteilt und die Einwohner aufgefordert hatten, nicht mit dem Sicherheitsapparat zusammenzuarbeiten und jegliche Form des Sufismus und deren Rituale einzustellen. Auch einer der lokalen Stammesführer war von den Militanten aufgesucht und gewarnt worden, keinerlei Sufi-Versammlungen mehr zuzulassen. Die Moschee im Dorf war ein bekanntes Zentrum eines im Nordsinai verbreiteten islamischen Sufi-Ordens. (Sufis sind Gläubige, die einer eher spirituellen und friedlichen Lesart des Islam folgen und die den militanten Islamisten daher schon länger ein Dorn im Auge sind.) Bereits in den letzten Jahren hatten militante Islamisten immer wieder die für Sufis heiligen Schreine im Nordsinai zerstört. Und im vergangenen Jahr hatte der IS dann den prominenten, über 90 Jahre alten Sufi-Scheich Suleiman Abu Heraz verschleppt und später dessen Enthauptungsvideo ins Internet gestellt. Konfessionelle Spaltungen schüren: Die meisten Opfer der militanten Islamisten im Nordsinai waren aber bisher Angehörige der Sicherheitskräfte oder Christen. Der ägyptische Dschihadisten-Experte Ahmad Zaghloul erklärt in einem Gespräch mit Qantara.de, warum der IS im Nordsinai eine neue Front gegen die Sufis eröffnet hat. "Der IS lebt davon, konfessionelle Spaltungen zu schüren, wie im Irak, in Syrien und am Golf zwischen Schiiten und Sunniten. Aber hier in Ägypten gibt es keine Schiiten. Deswegen versuchen sie dort zwischen Christen und Muslimen einen Graben zu ziehen und jetzt zwischen Sunniten und Sufis", erklärt er. "Es gibt grundlegende theologische Meinungsverschiedenheiten, vor allem was den Heiligenkult und die Kultur der Sufi-Heiligenschreine anbelangt. Alle fundamentalistischen Auslegungen des Islam stehen dem kritisch gegenüber, es gab aber nur seitens der Dschihadisten im Sinai gewaltvolle Übergriffe auf Sufis, und das hat etwas mit der politischen und gesellschaftlichen Lage im Sinai zu tun", erläutert Zaghloul. Denn die Sufis sind für die Dschihadisten im Nordsinai ein Störfaktor. "Die Sufis im Sinai sprechen sich gegen die Kultur der Gewalt aus. Deren Scheichs setzen sich mit jungen Menschen zusammen und versuchen, ihnen dieses Gedankengut auszureden. Daher hatten die Dschihadisten dort in manchen Gegenden Schwierigkeiten, Anhänger zu finden. Der IS publizierte daraufhin schriftliche Drohungen, als Antwort auf die gewaltkritische Haltung der Sufis." Es stellt sich nun die Frage, warum die ägyptischen Sicherheitskräfte, trotz ihrer massiven Präsenz im Nordsinai, diese Drohungen - auch speziell gegen die angegriffene Moschee - nicht ernst genommen haben. Die Einwohner des Dorfes waren völlig auf sich gestellt. Auf einer der Zufahrtstrasse zu der Moschee hatten sie aus Angst vor Autobomben schon seit Wochen einen Baum quergelegt. Das Moscheemassaker vom Freitag konnten sie damit nicht verhindern. Karim El-Gawhary | © Qantara.de 2017

Das Trauma des Regimes

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Der Volksaufstand von 2011 wirkt bis heute nach: Die ägyptische Regierung beschneidet den Spielraum der Opposition immer weiter. Von Christian Meier | Große Illusionen über seine Lage macht Hossam Bahgat sich nicht. „Ich vermute, sie sind einfach noch nicht bei meinem Anfangsbuchstaben angekommen“, lautet seine lakonisch vorgetragene Erklärung für die Tatsache, dass er sich nach wie vor auf freiem Fuß befindet. Seit mehr als vier Jahren führen die ägyptischen Behörden Ermittlungen gegen den Gründer der „Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte“ (EIPR), eine der bekanntesten Menschenrechtsgruppen in dem Land. Im vergangenen Jahr wurden sämtliche Vermögenswerte Bahgats wie auch der Organisation eingefroren – im Rahmen staatlicher Ermittlungen gegen Nichtregierungsorganisationen (NGO). Mehrere prominente Demokratieaktivisten wurden seither formal angeklagt. Bahgat ist bislang verschont geblieben, aber das sei, wie er sagt, eben nur eine Frage der Zeit. Sein Pass wurde ihm schon entzogen, so dass er Ägypten nicht verlassen kann. „Also genieße ich eben das kulturelle Leben hier“, sagt der 39 Jahre alte Menschenrechtsaktivist und Journalist. Ende September hat Bahgat beispielsweise das Konzert der bekannten libanesischen Band Mashrou’ Leila in Kairo besucht. Der Abend löste eine Verhaftungswelle aus: Nachdem im Publikum eine Regenbogenfahne geschwenkt worden war, ein Symbol der Schwulen- und Lesbenbewegung, nahmen die Sicherheitsbehörden in den folgenden Wochen Menschenrechtlern zufolge landesweit mehr als 70 Menschen fest. Ihnen werden Delikte wie „Anstiftung zu Ausschweifungen“ zur Last gelegt, ägyptische Medien kolportierten angebliche Verbindungen mit ausländischen Organisationen. Laut Human Rights Watch wurden schon mindestens zehn Menschen zu Haftstrafen zwischen einem und sechs Jahren verurteilt. Zudem wird im ägyptischen Parlament nun über einen Gesetzesentwurf debattiert, der Strafen von einem bis drei Jahren Gefängnis für gleichgeschlechtlichen Sex vorsieht. Auch das Zeigen von „Symbolen von Homosexuellen“ werde unter Strafe gestellt. Einschränkung der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen: Die Botschaft ist die gleiche wie im Fall Bahgats: Mit Unterstützung aus dem Ausland, so die Unterstellung der Regierung und ihr nahestehender Medien, versuchten bestimmte Gruppen, Staat und Gesellschaft zu destabilisieren. Vor diesem Hintergrund wurde im Sommer ein Gesetz in Kraft gesetzt, das lokale Nichtregierungsorganisationen in ihrer Arbeit stark beschränkt. So bedürfen finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland der Zustimmung durch eine neugeschaffene Behörde, und NGOs dürfen nicht mehr politisch tätig sein. Auch müssen sich sämtliche Organisationen aufwendig registrieren und unterliegen ständiger staatlicher Kontrolle. Das Gesetz hat sogar die ausdrückliche Kritik der Vereinigten Staaten hervorgerufen, die ein Verbündeter des Regimes von Abd al Fattah al Sisi sind, seit dieser im Sommer 2013 den islamistischen Präsidenten Muhammad Mursi stürzte. Auch die Vorwürfe, deren sich Hossam Bahgat erwehren muss, betreffen die angeblich illegale Finanzierung der EIPR aus dem Ausland und die Gefährdung der nationalen Sicherheit. Nur dass die Anschuldigungen gegen seine und eine Reihe weiterer Organisationen schon aus dem Jahr 2011 stammen. Es handelt sich um denselben Fall, der 2013 zur Verurteilung von 43 Mitarbeitern der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung und weiterer internationaler Organisationen führte. Jetzt sind die lokalen NGOs an der Reihe. Zivilgesellschaft unter Druck: Bahgat nennt das Vorgehen gegen Regimekritiker „effizient und effektiv“ – vor allem weil die Behörden in der Regel von spektakulären Einzelmaßnahmen absähen: „Daher gibt es keinen großen Aufschrei, keine riesigen Schlagzeilen.“ Es seien kleine, aber kontinuierliche Maßnahmen, die die ägyptische Zivilgesellschaft unter Druck setzten. Die Folge sei, dass viele Organisationen ihr Personal und ihre Aktivitäten reduziert hätten. Die EIPR habe 2012 mehr als 50 Mitarbeiter gehabt. Heute seien es weniger als 20. Dennoch glaubt der Menschenrechtsaktivist, dass das Regime in der Defensive sei – zumindest was die öffentliche Wahrnehmung betrifft. „Das Ausmaß des Missbrauchs ist einfach zu groß, als dass man ihn verbergen könnte.“ Durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, die auch die „Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte“ vornimmt, würden die NGOs immer noch das Bild Ägyptens im Ausland mitbestimmen. „Das ist etwas, was die Behörden wahnsinnig macht“, sagt Bahgat. Und insbesondere den Staatschef: Der sei überrascht, „dass die Welt immer noch über die Diktatur in Ägypten redet“. Tatsächlich muss der Ägypter gegenüber seinen westlichen Verbündeten immer wieder die Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten im Land rechtfertigen. So sprach der französische Präsident Emmanuel Macron das neue NGO-Gesetz sowie die Menschenrechtslage in Ägypten an, als er Sisi Ende Oktober in Paris empfing. Dieser erwiderte bei einer Pressekonferenz auf die Frage eines Journalisten zu Foltervorwürfen, es gebe „Gruppen mit extremer Ideologie, die unzutreffende Informationen über das veröffentlichen, was in Ägypten passiert“.Schwere und systematische Folter: Frage und Antwort bezogen sich auf einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die im September ausführlich über Folterpraktiken in Ägyptens Sicherheitsdiensten berichtet hatte. Die Polizei und der Geheimdienst „wenden während ihrer Untersuchungen regelmäßig Folter an, um vermeintliche Dissidenten zu einem Geständnis oder zur Preisgabe von Informationen zu zwingen oder um sie zu bestrafen“, heißt es darin. Die Misshandlungen seien Teil eines Prozesses, in dem echte und vermeintliche Regimekritiker mit Hilfe fabrizierter Anschuldigungen und unter Missachtung ihrer Rechte verurteilt würden. Allein die „Ägyptische Koordinierung für Rechte und Freiheiten“, eine lokale NGO, berichtete im Jahr 2016 von 830 an sie herangetragenen Beschwerden über Folter in Haft. Die Folterpraktiken umfassen laut Human Rights Watch regelmäßig Elektroschocks, Schläge mit Stöcken und Eisenstangen sowie erzwungene schmerzvolle Körperhaltungen. Aber auch noch drastischere Maßnahmen würden ergriffen. Auch das amerikanische Außenministerium zählte in seinem Bericht über die Menschenrechtslage in Ägypten 2016 zahlreiche Fälle von Folter, Tötungen, „erzwungenem Verschwindenlassen“ und weiteren Menschenrechtsverletzungen auf. Im August entschied Washington, die Hilfe für seinen Verbündeten um knapp hundert Millionen Dollar zu kürzen – wobei auch Kairos gutes Verhältnis zu Nordkorea eine Rolle spielte. Präsident Donald Trump hatte noch im April gesagt, Sisi mache einen „phantastischen Job“. „Kampf gegen den Terror“ als Vorwandfür Repression: Das ägyptische Regime bettet die „harte Hand“, mit der das Land regiert wird, in eine andere Erzählung ein: die von dem Kampf gegen die gewalttätigen Islamisten, der bestimmte Maßnahmen unumgänglich mache. Ein Teil der Muslimbruderschaft, die nach Mursis Sturz 2013 verboten wurde, ging in den Untergrund. Zudem verüben auf der Sinai-Halbinsel Aufständische, die mit der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) verbündet sind, regelmäßig Anschläge auf Sicherheitskräfte. Laut den Berichten lokaler Journalisten gerät die Lage dort immer mehr außer Kontrolle. Auch Macron verwies darauf, als er sagte, Sisi habe „eine Herausforderung: die Stabilität seines Landes, der Kampf gegen Terrorbewegungen, der Kampf gegen einen gewaltsamen religiösen Fundamentalismus“. Nach der Einschätzung Hossam Bahgats ist die Menschenrechtslage im Land heute „deutlich schlimmer als unter Husni Mubarak“. Zur Erklärung verweist er auf ein allgemeines Trauma, das die ägyptische Gesellschaft durch die aufwühlenden Geschehnisse der Arabellion in ihrem Land erlitten habe. „Das Regime leidet unter einem ähnlichen Trauma“, glaubt Bahgat. Die Mächtigen, die von der Wucht der Volkserhebung 2011 völlig überrascht wurden, seien fest davon überzeugt, dass etwas Vergleichbares wieder passieren könnte, wenn sie der Opposition auch nur ein klein wenig Raum gäben. Mubarak machen sie den Vorwurf, zuletzt zu nachgiebig gewesen zu sein. Das Trauma führt, folgt man Bahgats Erklärung, jedoch auch zu inneren Zerwürfnissen. Anders als unter Mubarak, der das Land fast 30 Jahre lang regierte, gebe es heute mehrere Machtzentren im Regime. Die Sicherheitsdienste etwa seien alle dem Präsidenten gegenüber loyal, stünden aber in Konkurrenz zueinander. So kommt es immer wieder zu „Pannen“: wie der Ermordung des italienischen Doktoranden Giulio Regeni mutmaßlich durch Sicherheitskräfte am 3. Februar 2016. Sisi selbst steht demnach zwar unangefochten über den Machtzentren. Aber das Bewusstsein dafür, dass es dem Präsidenten bislang nicht gelungen ist, seine zahlreichen Versprechen zu verwirklichen, ist auch in der Machtelite vorhanden. In der Bevölkerung hat Sisis anfangs immense Popularität gelitten, insbesondere seit die Abwertung des Pfunds im November 2016 zu einer Inflation von mehr als 30 Prozent geführt hat. Der Druck auf den Präsidenten wird in den kommenden Monaten zunehmen: Im Frühsommer 2018 endet seine Amtszeit. Am vergangenen Mittwoch kündigte er an, im Januar Rechenschaft abzulegen – dann solle „das ägyptische Volk“ entscheiden, ob er abermals antreten solle. Zugleich hob er die Bedeutung des Kampfs gegen den IS hervor und verwies auf die Krisen in Syrien und im Irak – und brachte damit ein Argument vor, das in den Augen vieler Ägypter der wichtigste Grund für eine abermalige Wahl Sisis sein könnte: Nur er könne für ein stabiles Ägypten garantieren. Christian Meier | © FAZ 2017

Schalten und walten

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Ende März finden in Ägypten Präsidentschaftswahlen statt. Die Wiederwahl des autokratisch regierenden Amtsinhabers Abdel Fattah al-Sisi gilt zwar als so gut wie sicher, doch bringt sich inzwischen zumindest ein ernstzunehmender Gegenkandidat in Stellung. Einzelheiten von Bachir Amroune | Eigentlich dürfte der Wiederwahl Al-Sisis nichts im Wege stehen und vordergründig scheint auch alles für ein ähnlich erdrückendes Ergebnis wie beim vergangenen Urnengang vor knapp vier Jahren (fast 97 Prozent der Stimmen) zu sprechen. Offiziell hat der Amtsinhaber noch nicht seine Kandidatur bekannt gegeben. Allerdings dürfte sie wohl als sicher gelten. Nichtsdestotrotz ist angesichts der katastrophalen Bilanz in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen bei diesem Wahlgang ein anderes Ergebnis möglich. Das ägyptische Pfund hat extrem an Wert verloren, auch wurden staatliche Subventionen auf Energie und Grundnahrungsmittel stark gekürzt. Die Mittelschicht ächzt unter den explodierenden Preisen, ganz zu schweigen von rund einem Drittel der Bevölkerung, das unter der Armutsgrenze lebt. Und mehr als Durchhalteparolen hat Al-Sisi momentan nicht anzubieten. Bei der sogenannten Terrorismusbekämpfung sieht es ähnlich düster aus: Spektakuläre Anschläge mit bis zu 300 Toten häufen sich, Kirchen mitten in Kairo werden angegriffen und der Aufstand der einheimischen Beduinenbevölkerung im Sinai nimmt mittlerweile bürgerkriegsähnliche Züge an. Dass das Regime bei der Befriedung der strategisch wichtigen Region ausschließlich auf militärische und polizeiliche Mittel setzt, die unbeteiligte Zivilisten in Mitleidenschaft ziehen, lässt die Situation noch weiter eskalieren. Siegreicher Jurist als Rivale Al-Sisis: Ein ernstzunehmender Herausforderer ist Khaled Ali. Der Anwalt sorgte im vergangenen Januar für viel Aufsehen, weil er erfolgreich gegen einen umstrittenen Deal des Präsidenten mit den Saudis geklagt hatte. Dieser sah vor, die beiden strategisch wichtigen Inseln Tiran und Sanafir an der Mündung des Golfs von Aqaba den Saudis zu überlassen. Dass die nicht gerade für ihre Unabhängigkeit berühmte ägyptische Justiz Khaled Ali zu diesem ungewöhnlichen Sieg über den mächtigsten Mann im Land verhalf, lässt vermuten, dass er bei seiner Kandidatur im November nicht ohne Rückendeckung da steht.Doch Alis Kandidatur steht auf der Kippe. Ende September hat ihn ein Gericht in Kairo zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung und einer Geldstrafe von 50 Euro verurteilt. Der Grund: während seiner Siegerpose im Januar soll er angeblich den Mittelfinger gezeigt haben, was das Gericht als Erregung öffentlichen Ärgernisses wertete. Weil Khaled Alis Berufungssitzung auf den 7. März verschoben wurde, könnte er formal für die Wahl kandidieren. Denn erst bei einer rechtskräftigen Verurteilung würde er ausgeschlossen, erklärte sein Anwalt. Amnesty International wertete das Urteilt gegen Khaled Ali als politisch motiviert und als Versuch der ägyptischen Behörden, jeden Rivalen auszuschalten, der Al-Sisis Wiederwahl im Weg stehen könnte. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Verurteilung bei guten Zustimmungswerten während der Kampagne nachgereicht wird und Ali kurz vor den Wahlen disqualifiziert wird. Der gezähmte Ex-Regierungschef: Vor allem Ahmed Shafiq hätte wohl das Zeug dazu gehabt, als Kandidat wirklich gefährlich für Al-Sisi zu werden. Als die Januarrevolte 2011 ausbrach, wurde der ehemalige Luftfahrtminister von Mubarak zum Regierungschef genannt, um die Aufstände zu beruhigen. Später schaffte er es als Kandidat des alten Regimes in die Stichwahl gegen den Kandidaten der Muslimbrüder und späteren Präsidenten, Mohamed Mursi, wobei er mit 48 Prozent der Stimmen knapp unterlag. Ihm wird eine Nähe zur reichen Oligarchie um Mubaraks Söhne Alaa und Gamal nachgesagt – eine Clique, die im internen Machtkampf mit Al-Sisi immer noch versucht, ihre alte Stärke zurückzuerlangen. Als ehemaliger Luftwaffengeneral hat Shafiq auch großen Halt im Militär.Dieser unberechenbaren Herausforderung wollte sich Al-Sisi auf keinen Fall stellen. Als Shafiq von seinem Wahlexil in den Vereinigten Arabischen Emiraten seine Kandidatur bekanntgab, wurde er laut seiner Anwältin von den dortigen Verbündeten Al-Sisis festgenommen und anschließend in einem Privatjet nach Ägypten ausgeliefert. In Ägypten verkündete er, seine Kandidatur nochmals zu überdenken. Am vergangenen Sonntag platzte schließlich die Nachricht, dass der frühere ägyptische Regierungschef nun doch nicht bei der Präsidentschaftswahl in diesem Jahr kandidieren will. Al-Sisi wird es mit Erleichterung aufgenommen haben. Schützenhilfe für Ägyptens "beeindruckenden Präsidenten": Das Zünglein an der Waage im internen Machtkampf des Regimes könnten Al-Sisis europäische Verbündete sein. Ende Oktober besuchte er Paris und schloss mit Präsident Macron einen Waffendeal in Wert von sechs Milliarden Euro, der unter anderem die Lieferung von modernen Kampfflugzeugen und Überwachungssoftware vorsieht. Berlin genehmigte allein 2017 etwa eine halbe Milliarde Euro an Waffenexporten nach Ägypten, so viel wie nie zuvor. Außerdem unterzeichneten beide Seiten im vergangenen August ein Abkommen zur Migrationsbekämpfung. Wie gut die Chemie zwischen beiden Regierungen ist, lässt sich an Außenminister Sigmar Gabriels Lob an die Adresse von Al-Sisi ablesen. Bei seinem Kairobesuch im April 2016 sagte er seinen ägyptischen Gesprächspartnern, sie hätten einen "beeindruckenden Präsidenten". Menschenrechtsorganisationen machen eine andere Rechnung auf: Seit Al-Sisis blutigem Putsch im Juli 2013 sollen etwa 60.000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet worden sein. Allein in den vergangenen beiden Jahren seien etwa 100 Gefangene hingerichtet worden, 1.700 Menschen würden vermisst.Bachir Amroune | © Deutsche Welle 2018

Dschihadis, bitte pusten!

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Im Arabischen Frühling war der Satiriker Bassem Youssef geliebt und gefürchtet. Dann floh er. Nun spottet er in Amerika. Von Dunja Ramadan | Die neuen Nachbarn sind seltsam? Sie trägt Kopftuch, er Bart und einen Knubbel auf der Stirn vom Niederknien? Sie sind anders? Fremd? Sprechen wir es aus: Sie sind Muslime? Natürlich darf man da nervös sein, versteht ja jeder, Terror, Frauenbild und so. Muss man aber nicht. Wirklich nicht. Denn Bassem Youssef hilft, genauer, sein Unternehmen "Jihadi Solutions". Die Firma hat ein Tool entwickelt - handlich, bedienungsfreundlich, kostengünstig - das Youssef in einem dreiminütigen Internet-Spot vorstellt: "Breathe Easy". Es funktioniert wie das Röhrchen für alkoholisierte Autofahrer und ordnet die Probanden je nach Radikalisierungsgrad auf einer Skala von "Ich mag Hummus" bis "Ich unterstütze den IS" ein. "Breathe Easy" ist laut Youssef das Ergebnis intensiver Forschung und fortgeschrittenster Technologie. Denn immer dann, wenn der Nachbar, sagen wir, Amerika den Tod wünsche, blieben Rückstände in den Zellen, woraufhin sogenannte radikale Enzyme freigesetzt werden. "Breathe Easy" liefere präzise Ergebnisse, "genauer als ein Drohnenangriff". Der arabische Jon Stewart wieder im Rampenlicht: Er ist also wieder da. Bassem Youssef, der arabische Jon Stewart, ein Pionier der politischen Satire, der Straßenfeger im Arabischen Frühling. Als er den Mächtigen in Ägypten zu mächtig wurde, floh er. Inzwischen lebt er in Amerika. Und tut, was er am besten kann: spotten. Sein Erfolg begann, als Langzeitpräsident Hosni Mubarak gerade gestürzt war. In der Wäschekammer seiner Wohnung in Kairo drehte Youssef, der promovierte Herzchirurg, Youtube-Videos. In Windeseile war er so bekannt, dass er eine TV-Sendung bekam, "AlBarnameg", "die Show". Es war eine Zeit unerhörter Freiheiten, und Youssef war ihre Spottdrossel. Die Zuschauer liebten ihn, die Regierung - jede ägyptische Regierung - hasste ihn. Er überlebte eine Militärregierung, die Muslimbrüder, aber die jetzige Militärregierung setzte seine Sendung ab. Nun lebt er also in Trump-Land. Youssef wäre nicht Youssef, wenn er das satirische Potenzial darin nicht erkennen würde: "Liegt es an mir? Bringe ich Unglück, egal wo ich hingehe? Bin ich ein Diktator-Magnet?", fragt er in seiner jüngst erschienenen Biografie "The Revolution for Dummies. Laughing through the Arab spring". Aber welcher Amerikaner will Witze über Amerika von einem Ägypter hören, wo schon die eigenen Satiriker oft von der Wirklichkeit überholt werden? Auf Arabisch erreichte Bassem Youssef pro Folge 40 Millionen Zuschauer. Seine englischen Youtube-Clips bringen es im Schnitt auf 250.000 Zuschauer. Immerhin: Er hat ein Thema. Im Wahlkampf hetzte Trump gegen Araber und Muslime. Youssef ist beides. "Ich wehre mich gegen Islamophobie und Diskriminierung, aber ich verteidige keine Religion, sondern Menschen", sagt Youssef am Telefon aus Amerika. Eine Art Erste-Hilfe-Video für Muslime: Nach dem Terroranschlag in Barcelona veröffentlichte er das "Muslim Morning After Kit", eine Art Erste-Hilfe-Video für Muslime, die nach dem Terroranschlag ihre Loyalität unter Beweis stellen müssen. Die Ausrüstung enthält eine riesige US-Flagge, ein T-Shirt mit "Einer von den Guten"-Aufschrift, ein Rucksack-Etikett "Nur ein paar Bücher und ein Laptop" und ein Foto des jeweilige Muslim mit dem Countrysänger Toby Keith (Keith schrieb "The Angry American" und sang bei Trumps Vereidigung). Youssef hat inzwischen eine eigene Show auf Youtube namens "Democracy Handbook". Er reist durch die Vereinigten Staaten, um die "großartigste Demokratie der Welt" kennenzulernen, geht in Waffengeschäfte, die Muslimen den Eintritt verbieten und Autoaufkleber mit "Muslim-freie Zone" verkaufen, spricht arabisch in ein Megafon, um sein "Recht auf Redefreiheit" zu praktizieren. Seine Form des Widerstands habe sich geändert, sagt Youssef, sein Herz hängt noch immer an seiner alten Heimat. "Wenn ich in den USA erfolgreich bin, kann ich das Augenmerk auf die Ereignisse in Ägypten lenken", hofft er. Als er noch aus Kairo sendete, schalteten die Ägypter nicht nur ein, um zu lachen, sondern auch, weil sie wissen wollten, ob es die Sendung überhaupt noch gibt. "In einer Gesellschaft, die darauf programmiert ist, ,Ja, mein Herr' zu sagen, habe ich mich dem System widersetzt und "Nein" gesagt. Ich habe es mit einem Grinsen, einem Zwinkern und einem Nicken gemacht - und das hat sie ganz schön angepisst", schreibt Bassem Youssef. "AlBarnameg"– ein kurzes demokratisches Experiment: Nun ist er weg, und die Ägypter sagen wieder "Ja, mein Herr" zu einer Regierung, die viele für brutaler halten als das Mubarak-Regime. Der Einsatz für Satiriker ist hoch, wenn es schlecht läuft, landen sie im Gefängnis - und die Fans schauen in die andere Richtung. "Alles was von dir übrig bleibt ist ein Hashtag auf Twitter", sagt Youssef. Das ist kein Vorwurf, aber warum soll er für dieses Land sein Leben riskieren? Dann lieber Exil."AlBarnameg" war ein kurzes demokratisches Experiment. Als die Sendung abgesetzt wurde, sagten viele, Ägypten sei noch nicht bereit gewesen für politische Satire. Youssef hält das für Unsinn. "Das sind Ausreden, die das Regime verbreitet. Wir sind nicht bereit für Gleichberechtigung, wir sind nicht bereit für Freiheit, wir sind nicht bereit für Demokratie. Wie kann man für etwas Gutes nicht bereit sein?" Die Revolution sei nicht vorbei, sie sei überhaupt weniger ein Ereignis als ein Prozess: "Es geht nicht ums Steinewerfen, sondern um ein verändertes Denken." Aus ägyptischer, also: aus seiner Perspektive hat Amerika viel zu verlieren. Wenn ein Präsident die Medien desavouiere, müsse die Demokratie geschützt werden, so Youssef. "Amerika, ich hoffe ihr unternehmt etwas gegen Trump. Betrachtet das Buch als Warnung, was noch alles auf euch zukommen könnte", heißt es am Ende. Und dann, weil er natürlich nie so tragisch enden würde: "Ehrlich gesagt, gehen mir langsam die Orte zum Auswandern aus, und Kanada ist verdammt noch mal viel zu kalt!" Dunja Ramadan | © Qantara.de 2018

Eine Open-Source-Plattform der Revolution

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Ein Kampf der Bilder und Symbole: Sieben Jahre nach Beginn der ägyptischen Revolution versucht das Medienkollektiv Mosireen, mit der Veröffentlichung einer Fülle an Videomaterial dem staatlichen Narrativ etwas entgegenzusetzen. Von Christopher Resch | Nur wenige Klicks, und der Zuschauer steht mitten in einer Demonstration vor dem mächtigen Kairoer Fernseh- und Rundfunkgebäude. Plötzlich: Schüsse, Schreie, die Kamera wackelt, in der Ferne heulen Sirenen. Einige Klicks weiter spricht die Mutter eines getöteten Jungen im Leichenschauhaus ihr Leid in die Kamera. Wenige Tage vor dem siebten Jahrestag des Beginns der ägyptischen Revolution haben Aktivisten unter www.858.ma ein Videoarchiv online gestellt. Insgesamt 858 Stunden umfasst das Filmmaterial, fast 36 Tage, und es soll stetig ergänzt werden. Die meisten Videos sind von 2011 und 2012, sie zeigen Demonstrationen gegen die Regierung, staatliche Repression oder Interviews. Wer sich durch das Archiv klickt, ist mittendrin in einer Realität, die die ägyptische Regierung gerne vergessen machen will. Hinter dem Archiv steht Mosireen, eine lose Gruppierung von Medienaktivisten. Auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos hatten sie Mitte 2011 Videos der Aufstände gesammelt und im "Tahrir Cinema" gezeigt. Bilder von der der ganzen Brutalität des Regimes: Schon während der 18 Tage dauernden Revolte, durch die im Februar 2011 der Langzeitpräsident Husni Mubarak hinweggefegt worden war, hatten viele der späteren Mosireen-Mitglieder Videoclips zusammengetragen und damit die unabhängigen ägyptischen und die internationalen Medien versorgt. Das staatliche Fernsehen hingegen suggerierte, alles sei friedlich. "Wir brauchten Beweise, Bilder von den Tötungen, von den gefolterten Körpern in den Leichenschauhäusern, von der ganzen Brutalität des Regimes", erklärt eine Aktivistin aus dem 858.ma-Team. Dass sie anonym bleiben möchte, ist verständlich: Der Kampf um die Deutungshoheit ist in vollem Gange – doch der Staat hat die größeren Mittel. Für ihn sind die Aufstände Chaos, Bedrohungen der inneren Sicherheit. Die viel größere Revolution sei der 3. Juli 2013 gewesen: An diesem Tag entmachtete das Militär den zwar unbeliebten, aber demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Mursi. Der hatte den demokratischen Auftrag gründlich missverstanden und versucht, das Land gemäß den Vorstellungen seiner Muslimbruderschaft umzubauen.Der starke Mann im Staat war und ist der damalige Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte und heutige Präsident, Abdel Fattah al-Sisi. Er nutzte die immer stärker werdende Polarisierung im Land, um das Militär als einzig verlässliche Ordnungsmacht zu präsentieren. Das ermöglichte ihm, zum einen die Muslimbrüder – den Machthabern schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge – und zum anderen sämtliche kritischen, von der offiziellen Lesart abweichende Stimmen mundtot zu machen. Dazu hat die Regierung beispielsweise ein viel kritisiertes Protestgesetz auf den Weg gebracht, das spontane Demonstrationen unter drakonische Strafen stellt. Das bisher letzte auf 858.ma hochgeladene Video zeigt eine Demonstration gegen dieses Gesetz. Manipulierte und instrumentalisierte Bilder: Nicht nur die Mosireen-Mitglieder sehen in der Revolte den Beginn einer der größten Umwälzungen in der jüngeren Geschichte der arabischen Welt. "Es ist das wichtigste, das in unserem Leben passiert ist", sagt die Aktivistin aus dem 858-Umfeld. "Aber das Regime manipuliert die Bilder, verändert ihre Bedeutung. Deshalb ist es unsere Pflicht, um das Narrativ zu kämpfen und aktiv die Geschichte mitzuschreiben." Dabei sei es bewusst den Nutzerinnen und Nutzern überlassen, was sie mit dem Archivmaterial machten. Die Videos sind roh, ungeschnitten und mit Zeitstempeln versehen – so lassen sie sich leicht bearbeiten. Hunderte Aktivisten habe es jahrelange Arbeit gekostet, das Material zu sammeln, zu sichten, zu ordnen, zu verschlagworten und schließlich auf der Open-Source-Plattform hochzuladen. Vielleicht ist es kein Wunder, dass Mosireen nach einer Zeit relativer Funkstille mit einem solchen, seine Kraft eher indirekt entfaltenden Projekt an die Öffentlichkeit tritt. Denn auch für das Kollektiv wurden die Spielräume angesichts zunehmender staatlicher Repression geringer."Nach dem Rabaa-Massaker 2013 hatte alles keinen Sinn mehr", sagt die Aktivistin. Damals wurde ein großes Protestcamp, das die Muslimbrüder nach der Entmachtung durch das Militär auf dem Kairoer Rabaa al-Adawiya-Platz eingerichtet hatten, brutal und mit etwa 1.000 Toten geräumt. Auch um diese Zahl ist – natürlich – ein Krieg entbrannt. Mehr noch: "Das Regime begann, aktiv unsere eigenen Bilder und Videos für ihre Zwecke zu benutzen. Wir brauchten Zeit, um unsere Stimmen neu zu finden." Mosireen suchte andere Ausdrucksformen: In "Out on the street", einem Film von Philip Rizk und Jasmina Metwaly, werden Ungerechtigkeit, Polizeiwillkür und Korruption beschrieben – alles Gründe für den Aufstand von 2011. Der Roman "The City always wins" von Omar Robert Hamilton, ebenfalls Teil von Mosireen, beschreibt atemlos und detailreich, wie Mitglieder des fiktiven Medienkollektivs "Chaos" während der Revolution für ihre Sache arbeiteten. Den 858.ma-Aktivisten geht es nicht darum, das einzig wahre Narrativ der Revolution zu erzählen. Das wäre vermessen. Doch das Archiv ist ein Mittel zum Zweck, der Wahrheit der Regierung etwas entgegenzusetzen. Auch wenn die Mosireen-Aktivistin sich sicher ist: "Wenn ich mir die ganzen Videos anschaue, ist das Narrativ stärker als alle Manipulationsversuche." Alaa Abdel-Fattah – Ikone des Widerstands: Kämpfe um Deutungshoheiten werden stets auch über Symbole ausgefochten. Solch ein Symbol ist Alaa Abdel-Fattah, Mitglied einer der berühmtesten Dissidentenfamilien des Landes. Für die Revolutionsanhänger ist er eine Inspiration, ein "unkontrollierbarer freier Geist", wie die Mosireen-Aktivistin ihn nennt. Für den Staat macht ihn genau das so gefährlich, weswegen er Abdel-Fattah lange hinter Gitter gebracht hat. Gewährte sein Bekanntheitsgrad ihm früher noch Schutz, weht heute ein anderer Wind, so die Botschaft. Auch in den über 1.600 Videos des 858.ma-Archivs spielt Abdel-Fattah eine Rolle. Die Frage wird sein, wie die Regierung mit der Fülle an Material umgeht: Konkrete Menschenrechtsverletzungen werden anhand der Videos schwer nachzuweisen sein. Gut möglich, dass die Regierung es einfach aussitzt. Der Kampf um die Symbole und Bilder geht weiter, auch im achten Jahr der ägyptischen Revolution. Christopher Resch | © Qantara.de 2018

Rufmord als politische Waffe

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Um politische Gegner zum Schweigen zu bringen oder Rivalen aus den eigenen Reihen zu diskreditieren, setzt das ägyptische Regime gezielt auf Rufmordkampagnen, meint die renommierte Aktivistin Esraa Abdel Fattah in ihrem Kommentar. | Die gegenwärtige ägyptische Regierung setzt alle ihr zur Verfügung stehenden Medien ein, um ihre Gegner systematisch zu diskreditieren und zum Hass gegen sie aufzurufen. Dabei macht sie keinen Unterschied zwischen Revolutionären, Mitgliedern früherer Regimes oder Angehörigen der militärischen Elite: Zur Zielscheibe werden alle, die sich kritisch äußern, abweichende Meinungen vertreten oder das Regime herausfordern. Daher sperrt die Regierung ihre Kritiker nicht nur ein, lässt sie verschwinden, belegt sie mit Reiseverboten oder friert ihre Vermögen ein, sondern überzieht sie auch mit Diffamierungskampagnen. Sie lässt Informationen "durchsickern" und veröffentlicht persönliche Telefongespräche. Diese werden dann von ihren Verbündeten in den Medien aufgegriffen und dazu verwendet, gegen die Zielpersonen zum Hass aufzurufen und sie zu diskreditieren. Warum greift das Regime seine Gegner auf solche Weise an? Und nach welchen Kriterien werden die Opfer ausgewählt? Auf diese wichtige Frage gibt es unterschiedliche Antworten: Zum einen sieht die Regierung beflissentlich davon ab, manche einflussreichen Regimekritiker einzusperren, da sie auf internationaler Ebene zu bekannt sind. Kämen sie ins Gefängnis, würde dies im Ausland zu viel Aufmerksamkeit erregen. Die Unruhe, die die internationalen Medien im Fall ihrer Verhaftung verbreiten würden, könnte dem Regime lästig werden. Zweitens könnte es sein, dass die Regierung keine andere Möglichkeit mehr sieht, als ihre Kritiker mit derart unmoralischen Mitteln zu tyrannisieren. Vielleicht hat sie keine ausreichenden Beweise, die eine Verhaftung rechtfertigen würden – auch wenn viele glauben, sie sei durchaus in der Lage, gegen jeden Gegner, den sie einsperren will, eine beliebige Anklage zu erfinden.Kein Spielraum für politischen Dissens: Drittens ist Rufmord gegen Verteidiger der Menschenrechte und die ägyptische Opposition – insbesondere gegen Frauen – eine sehr effektive Waffe. In einer konservativen Gesellschaft führen solche Diffamierungskampagnen dazu, dass die Glaubwürdigkeit des Opfers beeinträchtigt oder herabgesetzt wird – sogar wenn es sich bei den publik gemachten, angeblichen Verfehlungen um reine Privatangelegenheiten handelt. Sperrt man solche Aktivisten einfach rigoros ein, könnte sie das zu Helden oder Märtyrern machen. Stellt man hingegen ihren Ruf systematisch in Frage, zerstört das ihre Legitimität und mit ihr diejenige der gesamten Aktivisten der ägyptischen Januar-Revolution. Um zu verhindern, dass die zentralen Symbole und Führungspersonen der Januar-Revolution die Gesellschaft zu stark beeinflussen, eröffnet ihnen die Regierung keinerlei Spielraum. Dies ist eine wichtige Lektion, die das Regime aus den damaligen Aufständen und der relativ nachgiebigen Reaktion Mubaraks im Verlauf des Aufstands von 2011 gelernt hat.Daher wird sie auch solche Stimmen nicht zulassen, die ein freies politisches Klima fordern, wie während und kurz nach den Aufständen vom Januar 2011. In den diversen staatlich kontrollierten Medien kommen stattdessen nur heuchlerische Stimmen zu Wort, die im Dienste des Regimes Informationen verfälschen und die öffentliche Meinung gezielt beeinflussen. Anschwärzen mit System: Aus welchen Gründen auch immer: Noch nie zuvor wurde in Ägypten die Waffe des Rufmords und der Diskreditierung politischer Opponenten von einer Regierung so bewusst eingesetzt wie heute. Dies lässt die politische Führung in einem äußerst schlechten Licht erscheinen. Es ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Seine Kritiker auszuspionieren oder private Telefonate aufzuzeichnen und zu veröffentlichen, ist ein äußerst miserabler Stil. Die letzte Frage ist, ob die ägyptische Öffentlichkeit diese Taktiken eines Tages wirklich durchschauen kann. Wird sie erkennen, dass solche Regimes, die in die Privatsphäre ihrer Gegner eindringen und sie ausspionieren, verachtenswert sind –  und unfähig, die Opposition mit ehrenhaften Mitteln herauszufordern, nämlich auf der Grundlage von Logik und Fairness? Es wäre zu wünschen, dass die Regierung den politischen Einwänden ihrer Kritiker auf vernünftige, respektvolle und direkte Weise begegnen würde, ohne auf Täuschung oder Fälschung zurückgreifen zu müssen. Esraa Abdel Fattah | © Open Democracy 2018 | Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Das militärische Imperium

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Nach dem Arabischen Frühling gewann das ägyptische Militär nie dagewesenen Einfluss. Es kontrolliert mit finanzieller Hilfe einiger Golf-Monarchien die Politik und die Wirtschaft am Nil. Einige historische Betrachtungen von Ingy Salama | Präsident Abdel Fattah al-Sisi beteuert, dass der Anteil von Unternehmen in Militärbesitz heutzutage nicht einmal zwei Prozent des ägyptischen Bruttoinlandprodukts betrage. Doch die Zahl scheint zu niedrig, wenn man die vielen Privilegien des Militärs betrachtet. Präzise Zahlen sind jedoch schwierig zu bekommen. Das Militär ist eine Blackbox, da es wenig Information über Hierarchien, Budget und Einfluss auf das öffentliche Leben gibt. Laut Gesetz "Law 313" dürfen jegliche Nachrichten über die Streitkräfte nur mit der Autorisierung des Direktors des Militärgeheimdienstes publiziert werden. Traditionell sind die Streitkräfte in Ägypten für die Bürger eine Quelle nationalen Stolzes: 1952 entthronte eine Gruppe Militäroffiziere unter der Führung von Gamal Abdel Nasser – bekannt als die "Freien Offiziere"– den König und gründete die Republik. Seitdem betrachten sich die Streitkräfte als Hüter und Führer der nationalen Entwicklung. Während seiner Präsidentschaft verstaatlichte Nasser (1956–1970) mehrere Unternehmen und legte die Grundlage für eine Industrialisierung unter der Aufsicht des Militärs. Der Bau des Assuan-Staudamms und die Verstaatlichung des Suez-Kanals waren Beispiele für die neue Rolle des Militärs in der Innenpolitik und Ökonomie. Alle Macht den Militärs: Auf Nasser folgte Anwar al-Sadat (1970-1981), der mit einer Politik der offenen Tür ausländische Investoren anlockte. Er reduzierte die Zahl der Offiziere in Schlüsselpositionen, aber achtete darauf, dass die Streitkräfte in ökonomischen Belangen ihre privilegierte Rolle behielten. Weitere militäreigene Unternehmen wurden gegründet. Dahinter stand die Idee, dass sie die Armee und den Binnenmarkt mit erschwinglichen Gütern versorgen könnten. Nach Sadats Ermordung 1981 wurde Hosni Mubarak Präsident. Auch er war ein General, und er bewahrte die Rolle des Militärs als eine führende Institution im politischen und wirtschaftlichen Leben. Mubarak setzte vorzugsweise pensionierte Generäle in Schlüsselpositionen ein. 1986 erließ seine Regierung die Steuern für Importe des Verteidigungsministeriums und des Staatsministeriums für militärische Produktion. 1997 verfügte Mubarak per Erlass, dass das Militär jede unbestellte Ackerbaufläche bewirtschaften dürfe. Die Rolle des Militärs in der Wirtschaft wurde als sozial verantwortlich betrachtet, weil es die Märkte mit Gütern zu akzeptablen Preisen belieferte. Manchmal griff das Militär ein, um das Leben der Menschen zu erleichtern – so etwa 2008, als es eine Brotknappheit gab: Mubarak forderte damals die Streitkräfte auf, die Produktion in den militäreigenen Bäckereien zu erhöhen. Die Aufstände von 2011 läuteten eine weitere Phase der Militarisierung Ägyptens ein. Zahllose Protestierende forderten "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit". Präsident Mubarak trat zurück, und der Oberste Rat der Streitkräfte (SCAF), eine Gruppe hoher Militärs, ergriff die Macht. Die Armee als gefeierte “Hüterin der Stabilität“: Die Polizei zog sich von den Straßen zurück und die Menschen hießen die Soldaten willkommen, die strategisch sichtbar in Kairo und anderen Orten stationiert wurden. Die Polizeikräfte wurden als korrupte Diener eines diskreditierten Regimes betrachtet, die Armee hingegen als Hüterin der Stabilität. Die Medien berichteten obendrein, dass das Militär der Regierung hohe Geldsummen geliehen hatte, um die Wirtschaft zu stützen. Gleichzeitig wies das Militär jegliche Kritik an seinem Wirtschaftsimperium zurück. General Mahmoud Nasr erklärte 2012 im Namen des Verteidigungsministeriums, dass das Militär "niemals militärisch kontrollierte Projekte irgendeiner anderen Autorität übergeben würde". Seiner Ansicht nach waren diese Unternehmen kein staatliches Eigentum, sondern entstanden "aus dem Schweiß des Verteidigungsministeriums". Während des Arabischen Frühlings gab es auch Arbeiterunruhen in Ägypten. Sit-ins und Streiks waren an der Tagesordnung. Der SCAF schlug die Streiks nieder. Demonstranten wurden vertrieben und viele verhaftet. 2012 wurde Mohamed Mursi von der lang unterdrückten Muslimbruderschaft zum Präsidenten gewählt. Nasser hatte die islamistische Organisation verboten mit der Begründung, sie seien 1954 in ein Mordkomplott verwickelt gewesen. Sadats und Mubaraks Haltung war die gleiche. Viele Muslimbrüder saßen im Gefängnis. Gegenwind für die Muslimbrüder: Eine neue Verfassung gab dem Militär rechtliche Immunität und schützte es vor öffentlichen Untersuchungen. Mursis Beziehungen zum Militär verschlechterten sich jedoch rapide, als er Pläne bekanntgab, den Suez-Kanal-Korridor zu entwickeln und ihn in einer Partnerschaft zusammen mit Indien in eine lukrative industrielle Zone zu verwandeln – ohne dies vorher mit dem Verteidigungsministerium abgesprochen zu haben. Für Ägyptens Militär war der Suez-Kanal immer von höchstem geschäftlichen Wert. Entsprechend wiesen die Streitkräfte Mursis Pläne ab. 2013 wurde Mursi durch einen blutigen Militärputsch gestürzt und General Abdel Fattah al-Sisi kam als Führer einer Militärjunta an die Macht. Hunderte Muslimbrüder wurden getötet. Während seiner Ankündigung, als Präsident zu kandidieren, trug Al-Sisi  2014 noch seine Uniform und zog sich erst später aus dem Militär zurück, um seine Wahlkampagne als Zivilist zu führen. Er gewann die Wahlen, doch die Muslimbrüder, welche die vorherigen Wahlen in Ägypten gewonnen hatten, durften gar nicht antreten. Auf der anderen Seite war Mursi immer unpopulärer geworden, da er das harte Leben der Menschen nicht erleichtert, sondern den Staat seiner religiösen Bewegung untergeordnet hatte. Massive Proteste hatten seine Absetzung gefordert, und deswegen stützten viele Ägypter Al-Sisis harte Haltung gegenüber den Muslimbrüdern. Die Medien stellten es so dar, dass das Militär auf Seiten des Volkes stand. In Abhängigkeit von den Golfstaaten: Heute ist Abdel Fattah al-Sisis Regierung finanziell von den Golfstaaten abhängig. Der Einfluss des Militärs hat unter seiner Präsidentschaft zugenommen. So betreibt Al-Sisi beispielsweise zwei Megaprojekte mit direkter militärischer Beteiligung: den Ausbau des Suez-Kanals und den Bau einer neuen Hauptstadt. 2015 erlaubte seine Regierung Offizieren des Militärs, Polizei und des Geheimdienstes, private Sicherheitsfirmen zu gründen. Gleichzeitig sind militäreigene Unternehmen in allen wirtschaftlichen Bereichen aktiv. Obwohl das Regime scheinbar strikte Kontrolle über das Land ausübt, gibt es offenbar Konflikte mit dem "tiefen Staat": So säuberte Al-Sisi den Geheimdienst, mehr als 100 Beamte wurden entlassen. Mitte Januar entließ der Präsident den Direktor des Geheimdienstes und ersetzte ihn vorläufig mit seinen Stabschef General Major Abbas Kamel. Währenddessen wächst die Unzufriedenheit in anderen staatlichen Institutionen. Al-Sisi wurde öffentlich von mehreren Militärführern kritisiert, weil er zwei Inseln im Roten Meer an Saudi-Arabien übergeben und Ägyptens Anspruch aufgegeben hatte. Obendrein tweetete Generalleutnant Ahmed Shafiq ein scharf formuliertes Statement gegen Al-Sisi, als Ägypten den Bau des äthiopischen Renaissance-Damms stromaufwärts am Nil nicht unterbinden konnte. In der Regel ist jedoch öffentliche Kritik an dem Regime selten geworden. Ägyptens Medien sind nicht frei. Ingy Salama | © Zeitschrift für Entwicklung & Zusammenarbeit 2018

Die Fangarme der Autokratie

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In Diktaturen werden die Repressionen an die Bürger weitergegeben, die dann wiederum indirekt die absolute Macht des Regimes stabilisieren. Diesen Teufelskreis, unter dem die Bevölkerung leidet, Teile von ihr paradoxerweise aber auch profitiert, beschreibt Maged Mandour am Beispiel Ägyptens. | Um an der Macht zu bleiben, benötigen autokratische Regime ein hohes Maß an Unterdrückung, die hauptsächlich von den oberen sozialen Schichten auszugehen scheint. Die Realität ist allerdings deutlich komplexer. Die Bürger werden von der Autokratie geprägt, und damit leiden sie nicht nur unter den Repressionen, sondern profitieren auch von ihnen: "Kleinere" Autokraten unterdrücken diejenigen, die in der sozialen Rangordnung unter ihnen stehen. So wird die Unterdrückung dezentralisiert und erzeugt einen Nährboden für gesellschaftliche Repressionen, deren vor allem die schwächeren Teile der Gesellschaft zum Opfer fallen – Randgruppen, Minderheiten, Frauen und Arme. Diese Repressionen finden auf allen gesellschaftlichen Ebenen statt – an Orten wie Schulen, am Arbeitsplatz und sogar zu Hause in den Familien. So führt die staatliche Politik, die diese Art von Unterdrückung fördert, zu einer Gesellschaft, deren Freiheit extrem eingeschränkt ist – sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Dabei nimmt der Druck weiter oben auf der sozialen Skala immer mehr ab. Ungleichheit wird als natürlicher Zustand akzeptiert. Und diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, werden entmenschlicht, unterdrückt und missachtet. Diese Methode ist für die Stabilisierung und Förderung eines autokratischen Systems von entscheidender Bedeutung. Autokratie im Klassenzimmer: Wenn man die Unterdrückung in Ägypten betrachtet, kann man klar erkennen, dass sie alle Schichten der Gesellschaft durchdringt. Ein einfaches Beispiel dafür ist das Schulsystem und die Gewalt, der die Kinder der unteren sozialen Schichten dort ausgesetzt sind. 2015 starb ein Kind an Verletzungen, die ihm von einem prügelnden Lehrer zugefügt wurden. Ein weiterer Fall wurde im Jahr 2014 bekannt: Der Leiter eines Waisenhauses wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem durch Videoaufnahmen belegt werden konnte, dass er Waisenkinder, die unter seiner Obhut standen, brutal geschlagen hatte. Diese extreme Gewalt gegen Kinder ist an ägyptischen Schulen weit verbreitet, insbesondere in sozial schwachen Regionen. Sie reicht lange vor das gegenwärtige neomilitärische Regime zurück. Einst erklärte Ahmed Zaki Badr, der damalige Ausbildungsminister unter Mubarak, eine Abschaffung der Prügelstrafe an Schulen würde die Lehrer zu sehr angreifbar machen. Dies belegt, wie Gewalt gegen Schüler vom Staat gebilligt wird. Je ärmer und verletzlicher die Opfer, desto mehr sind sie Repressionen ausgesetzt, die interessanterweise auch von denjenigen ausgehen, die am stärksten leiden. Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass der durchschnittliche ägyptische Lehrer wirtschaftlich marginalisiert und unterbezahlt ist – was im Jahr 2015 durch Proteste ans Licht kam. Also hat es die Autokratie geschafft, in den Klassenräumen eine Diktatur im Kleinformat nachzubilden. Diese richtet sich vor allem gegen die unteren Schichten, um die Armen, die sich nicht dagegen wehren können, zwangsweise zu Gehorsam und Disziplin zu erziehen.Dazu kommt noch, dass die Schüler ständig ideologisch indoktriniert werden, wie wichtig es ist, zu gehorchen und sich gesellschaftlich konform zu verhalten. Auch wird jegliche Art kreativen Denkens unterdrückt. Der Schwerpunkt liegt eindeutig darauf, Informationen auswendig zu lernen, was auf Kosten der Entwicklung analytischer Fähigkeiten geht. Jegliche Abweichungen vom Lehrbuch werden als falsch gewertet. Autokratie auf der Straße: Nicht nur in den Klassenzimmern erfindet sich die Autokratie immer wieder neu. Auf den Straßen von Kairo geht es ähnlich zu, und am deutlichsten geschieht dies auf Kosten der obdachlosen Straßenkinder. Diese Kinder, von denen es allein in Kairo schätzungsweise 600.000 gibt, leiden in erschütterndem Ausmaß unter Missbrauch und sexueller Gewalt. Und sie genießen keinerlei rechtlichen Schutz oder soziale Unterstützung.Erst im Jahr 2006, als die Leichname einiger Straßenkinder gefunden wurden, trat das Ausmaß der Gewalt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Damals wurden sechs Personen verhaftet, die mutmaßlich für die Ermordung, Vergewaltigung und Folter von Kindern verantwortlich waren. Der Fall wurde allerdings schnell wieder unter den Teppich gekehrt – ohne dass die Regierung darauf reagiert oder sich die öffentliche Wahrnehmung der Straßenkinder verändert hätte. Auch hier gibt es also Raum für autokratische Repressionen, auch hier fallen die unteren Schichten der Gesellschaft den Mächtigeren zum Opfer. So wird Unterdrückung und Gewalt an die Peripherie der Gesellschaft weitergegeben und der grundlegende Sozialvertrag des „Leviathan“ verletzt, wie er durch Thomas Hobbes definiert wurde. Weder die Regierung noch die mächtigen Schichten der Gesellschaft erkennen die Existenz dieser Kinder an. Deutlich wurde dies beispielsweise durch den Aufruf eines ägyptischen Schriftstellers, die Kinder zu töten, um das Problem zu lösen.   Autokratie und Frauen:   Eine weitere soziale Gruppe, die immer wieder Opfer von Missbrauch und Unterdrückung werden, sind die Frauen. Dies reicht von häuslicher Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch und Massenvergewaltigungen, insbesondere während der Zeit der Proteste in Ägypten zwischen 2011 und 2013. Im Rahmen einer Umfrage der Vereinten Nationen gaben 99,3 Prozent der befragten Frauen an, sie seien schon einmal verbaler oder physischer sexueller Belästigung zum Opfer gefallen. In einer anderen Umfrage von 2005 berichtete ein Drittel der Frauen, ihre Ehemänner hätten sie missbraucht. Sieben Prozent gaben an, sie seien "häufig" geschlagen worden.Verschärft wird diese schlimme Lage durch eine staatliche Politik, die den Frauen keinerlei Schutz bietet. Im Gegenteil: Die Regierung fördert diese Art von Unterdrückung noch, indem sie Frauen, die häusliche und sexualisierte Gewalt überlebt haben, Hindernisse in den Weg stellt. Wenn Frauen Fälle sexueller Belästigung melden, werden die Sicherheitskräfte laut Berichten von Augenzeugen nur sehr ungern aktiv, und oft raten die Beamten den Frauen sogar von einer Meldung ab. Was die häusliche Gewalt betrifft, werden die Frauen, die einen Missbrauch melden möchten, von den ägyptischen Gesetzen erheblich behindert. Gemeinsam mit dem umständlichen Scheidungsrecht bedeutet dies, dass Frauen in missbräuchlichen Beziehungen meist zum Schweigen gezwungen sind. Frauen sind eine marginalisierte Gruppe, ein leichtes Ziel für gesellschaftliche Repressionen durch Männer, die wiederum durch mächtigere Männer unterdrückt werden. Und so nimmt der Teufelskreis von Gewalt und Unterdrückung seinen Lauf.Auch im häuslichen Bereich wird die Autokratie auf diese Art in Gang gehalten. Der Mann, der außerhalb seines Hauses unterdrückt wird, übernimmt innerhalb der Familienstruktur die Funktion des Autokraten. Wie es ihm beliebt, verbreitet er dort Gewalt und Unterdrückung. Gegen diese Behandlung haben Frauen und Kinder kaum soziale oder gesetzliche Schutzmöglichkeiten. Auch hier, auf der Ebene der Familie, schafft das Regime den Raum, der nötig ist, um die Autokratie immer wieder neu zu erschaffen. Die Rolle des örtlichen Autokraten wird hier vom Haushaltsvorstand eingenommen. Den größten Teil dieser Unterdrückung müssen die Frauen der ärmeren sozialen Schichten tragen. Frauen der Mittel- und Oberschicht genießen einen gewissen Schutz durch soziale Normen, aber auch sie sind gegen solchen Missbrauch nicht immun.   Eine Vielzahl von Autokratien:   Angesichts all dessen wird klar, dass es in einer Diktatur nicht nur einen einzigen Autokraten gibt, sondern eine Vielzahl von ihnen – in allen Bereichen des täglichen Lebens. Die Diktatur schafft die Bedingungen für den Missbrauch von Macht und delegiert den Prozess der Unterdrückung an ihr Volk. Diese Repressalien sorgen dafür, dass das Regime stabil bleibt, da sie es den Opfern ermöglichen, andere zu unterdrücken, obwohl sie selbst unterdrückt werden. Das Endergebnis ist die absolute Macht. Dies trägt auch zu antidemokratischen Tendenzen bei, da Opfer in einer demokratischen Ordnung rechtlich und sozial gegen solchen Missbrauch geschützt wären. Mini-Autokraten hassen es aber, ihre Macht über ihre Opfer zu verlieren. Ständige Gewalt und Unterdrückung haben zur Folge, dass die Bürger brutalisiert und entmenschlicht werden. Damit schaffen sie die nötigen sozialen Bedingungen für autokratische gesellschaftliche Strukturen. Dieser Prozess negiert Ideen von Gleichheit und Freiheit und vertieft die Wahrnehmung, die Grundlage der sozialen Ordnung sei eine natürliche Ungleichheit – wofür die Ansicht, Männer seien Frauen überlegen, das beste Beispiel liefert. Ohne diese sozialen Bedingungen könnte die Autokratie nicht überleben. Damit ein Autokrat regieren kann, müssen die Fangarme der Unterdrückung alle Teile der Gesellschaft umschlingen. Maged Mandour | © Open Democracy 2018 | Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

"Soviel Zensur wie nie zuvor"

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Yasmine Zohdi leitet das Kulturressort von Mada Masr, der größten liberalen Online-Zeitung Ägyptens. Im Gespräch mit Schayan Riaz erklärt sie, wo die Grenzen zwischen erlaubten und unerlaubten Bildern im ägyptischen Kino verlaufen und wie sich unbequeme Regisseure gegen die Zensur zu helfen wissen. | Frau Zohdi, Sie waren in diesem Jahr ein Teil der Berlinale Talent Press und haben hauptsächlich über das arabische Kino geschrieben. Wurden Ihnen diese Filme zugeteilt oder haben Sie sich selbst für sie entschieden? | Yasmine Zohdi:Ich habe mich selbst für sie entschieden und auf ägyptische oder arabische Filme im Programm der Berlinale fokussiert, weil diese Filme - aufgrund von Zensurmaßnahmen der Behörden - niemals in ägyptischen Kinos laufen würden. Ich wollte daher sehen, worum es in diesen Filmen geht. Außerdem sollten wir am Ende unserer Zeit als "Talent Press Mitglied" des festivals einen längeren Aufsatz schreiben. Dieser sollte wiederum auch bei Mada Masr erscheinen, also auf der Webseite, für die ich in Ägypten arbeite. Von daher wollte ich, dass der Text auch relevant für die Region der Leser ist. Sie haben soeben das Thema Zensur erwähnt. Wo verlaufen die Grenzen zwischen erlaubten und unerlaubten Bildern im ägyptischen Film? | Zohdi:Es gibt überhaupt keine Standards. Das ist das größte Problem der ägyptischen Zensurbehörde. Wenn es um Zensur geht, dann gibt es einfach keine Regeln. Oftmals hängt es bei beliebigen Filmen vom einzelnen Gutachter ab. Und bei manchen Filmen weiß man schon von vornherein, dass sie niemals im Kino laufen werden, weil darin beispielsweise Kritik an der Regierung geübt wird. So gesehen durchleben wir derzeit im ägyptischen Kino die bislang wohl schlimmste Phase. Es werden so viele Filme zensiert wie noch nie zuvor. Und damit meine ich nicht, dass nur einige Szenen rausgeschnitten werden müssen. Ich meine, dass man diese Filme erst gar nicht zu sehen bekommen. Wie gehen Sie mit diesem heiklen Thema in Ihrer journalistischen Arbeit um? Schreiben Sie über Zensur? Und wie kommen Ihre Artikel an?Zohdi:Natürlich tue ich das. Aber unsere Website ist ein besonderer Fall. Obwohl Mada Masr zu den letzten unabhängigen journalistischen Plattformen zählt, ist unsere Website geblockt. Sie ist nur außerhalb Ägyptens aufrufbar, was die Leute in Ägypten trotzdem nicht davon abhält, Proxy-Verbindungen herzustellen und unsere Seite zu lesen. Also arbeiten wir wie gewohnt und veröffentlichen auch weiterhin. Aber es hat unsere Leserschaft doch beeinträchtigt. Wie die Regierung zu unserer Arbeit steht, ist natürlich nicht sehr positiv. Kämen für Sie auch andere Methoden der Kommunikation in Frage, um die Blockade zu umgehen? Wäre YouTube eine Alternative für Ihre Filmkritiken? | Zohdi:Naja, Mada Masr ist hauptsächlich eine Nachrichtenseite, aber manchmal nutzen wir auch Videos. In der Tat ist das ist etwas, womit wir in Zukunft mehr experimentieren sollten. Und inzwischen haben wir auch schon einen eigenen YouTube Kanal! Es gibt zum Beispiel eine Web-Serie, so eine Art politische Satire-Sendung. Sie heißt "Big Brother", ist sehr witzig und hat sich bereits längst viral verbreitet. Unsere Website hat sie produziert. Sie wurde sogar in der internationalen Presse besprochen, wie etwa in der Financial Times. Also ja, wir sind immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten.Üben Künstler in Ägypten heutzutage mehr Selbstzensur aus, damit ihr Werk bei der Regierung nicht in Ungnade fällt? | Zohdi:Ich denke schon. In der Sektion "Panorama" der Berlinale habe ich in diesem Jahr den Dokumentarfilm "Al Gami'ya" (What Comes Around) gesehen. Während einer Filmbesprechung nach der Vorführung berichtete die Regisseurin Reem Saleh, dass sie viele Szenen drehte, die mit der Revolution und ihren Folgen zu tun hatten. Diese nutzte sie aber letztendlich doch nicht, da sie mit den Menschen im Film nichts zu tun hatten. Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass sie die Szenen nur deshalb rausgeschnitten hat, damit sie ihren Film eines Tages in Ägypten zeigen kann. Anders als Tamer El Said, der seinen Film "In the Last Days of the City" bis heute nicht zeigen durfte, nur weil eine Szene vorkommt, in der man eine Demo sieht und den Satz "Nieder mit der Militärherrschaft" hört. Wobei man wissen muss, dass die Szene lange vor der Revolution stattfand. Aber trotzdem hat man den Film, der übrigens auch vor ein paar Jahren auf der Berlinale lief, in Ägypten bislang nicht zeigen dürfen.Herrscht bei ägyptischen Filmemachern eine eher ängstliche Stimmung? | Zohdi:Ich würde nicht sagen, dass die Filmemacher Angst haben, aber alles nimmt natürlich einen gewissen Einfluss auf ihre Entscheidungen. Damit meine ich, was sie in ihren Werken machen können – und was nicht. Zum Beispiel ist es jetzt sehr schwierig, in der Öffentlichkeit zu drehen. Man brauchte zwar schon immer Drehgenehmigungen, aber das Volk ist paranoider geworden, weil es jetzt wegen der Regierung Angst vor Menschen bekommt, die mit Kameras rumlaufen. Filmemacher haben in diesem Sinne viele Probleme und doch sind sie weiterhin beruflich tätig. Es gibt auch noch immer Film-Festivals in Ägypten. Erst letztes Jahr eröffnete das erste El Gouna-Film-Festival in einer Ferienstadt am Roten Meer. Ich würde sagen, dass es das zweitgrößte Festival nach dem in Kairo ist. Also, obwohl die Dinge so sind wie sie sind, gibt es auch immer wieder neue Entwicklungen. Haben Sie persönlich eine Veränderung zwischen den Filmen feststellen können, die vor und nach der Arabellion produziert worden sind? Hat sich das ägyptische Kino seitdem geändert? | Zohdi:Das kann man gewiss so sagen. Obwohl es jetzt viel mehr Einschränkungen gibt, ist man offen für Neues – nicht nur im Kino, sondern auch im Fernsehen. Die Menschen sind heute mutiger. Alle behaupten zwar ständig, dass wir zum Ausgangspunkt zurückgekehrt sind. Doch das stimmt nicht. Es hat einen Wandel gegeben, der Bewusstseinszustand einer ganzen Generation hat sich geändert. Die Menschen waren an einem historischen Moment beteiligt, was einfach unersetzlich ist. Und das hat die Menschen verändert – letztendlich auch wie sie beispielsweise über Kunst denken. Und das sieht man in den Filmen an. Das Gespräch führte Schayan Riaz. | © Qantara.de 2018

Wenn Schreiben zur Straftat wird

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Das ägyptische Militärregime unterdrückt Autoren, denen die "Verletzung öffentlicher Moral" vorgeworfen wird. Einer der prominentesten Prozesse der letzten Jahre richtete sich gegen den ägyptischen Schriftsteller und Journalisten Ahmed Naji. Moritz B. und Luisa M. haben sich mit ihm unterhalten. | Warum hat Ihr Gerichtsverfahren für so viel Medienberichterstattung gesorgt?Ahmed Naji:In dem Prozess geht es um jemanden, der ein Buch schreibt und ins Gefängnis kommt, weil das Gericht befindet, das Buch zerstöre die öffentliche Moral. Das ist ein Novum in der Geschichte der modernen ägyptischen Rechtsprechung. Was den Fall außerdem besonders gemacht hat, war, dass es um Sex ging. Für Zeitungen sind alle Nachrichten, in denen es um Sex geht, interessant.Aber in anderen Büchern geht es doch auch um Sex.Naji:Schon, und ich halte mich wirklich nicht für jemanden, der rote Linien übertreten will. Aber 2015 ordnete ein Staatsanwalt an, jeden laufenden Fall gegen Journalisten wieder aufzurollen. Die anderen Journalisten wurden überwiegend dafür angeklagt, den Präsidenten oder die Regierung beleidigt zu haben. Mein Fall war eine Gelegenheit für den Staatsanwalt, sich als Gott der öffentlichen Moral zu inszenieren.Denken Sie, dass öffentliche Moral religiöse Moral ersetzt?Naji:Da gibt es natürlich einen Zusammenhang. Al-Sisi redet ständig über öffentliche Moral, weil er nicht den Eindruck erwecken will, er bekämpfe den Islam. Er zeigt zum Beispiel immer seine Frau, die Hijab trägt, und redet über öffentliche Moral statt über Religion.Ein Ausschuss hat geprüft, ob Ihr Buch fiktiv ist oder nicht. Wie ist er vorgegangen?Naji:Der Staatsanwalt hat mein Buch wie einen Zeitungsartikel behandelt, weil ein Kapitel daraus im Literaturmagazin Akhbar al-Adab veröffentlicht wurde.Eine Szene beschreibt, wie der Protagonist Drogen nimmt. Unter dem Text stand mein Name. Der Staatsanwalt drohte damit, mich entweder wegen Drogenmissbrauchs anzuklagen oder den Chefredakteur für die Veröffentlichung von Falschnachrichten.Im offiziellen Untersuchungsbericht steht eine aberwitzige Frage, die der Staatsanwalt dem Chefredakteur gestellt hat: “Was wissen Sie über die Beziehung zwischen Ahmed Naji und der Löffeldame”? Die Löffeldame, Sayyida al-mal‘aqat, ist der Name einer der erfundenen Figuren im Buch.Sie verwenden in "Using Life" eine Sprache, die für Romane nicht üblich ist. Haben Sie geahnt, dass Ihnen das Buch, und insbesondere die Sprache, Probleme bereiten würden?Naji:Ich schreibe Nischenliteratur und ich weiß, dass meine Bücher kompliziert sind. Mein Anwalt hat sich in seiner Argumentation auf die Verfassung berufen, die den Freiheitsentzug aufgrund von Kunstwerken oder kreativen Texten untersagt. Der Richter entgegnete: "Literatur muss schön sein und die öffentliche Moral fördern. Ahmed Najis Texte sind keine Kunstwerke, weil er keine Metaphern benutzt".Beispielsweise ist eine Sexszene, wenn der Schriftsteller Alaa al-Aswany sie beschreibt, immer gewaltig. Es könnte eine homosexuelle Sexszene sein. Aber sie ist unbedingt reich an Metaphern, die beschreiben, dass sie sich fühlt, als öffne sich eine Blume in ihr; wie er ihre Früchte berührt und den Honig zwischen ihren Beinen trinkt. Ich verwende solche Metaphern nicht. Aber ich könnte einen Abschnitt in sehr klassischem Arabisch beginnen und ihn in starkem Dialekt oder in modernem Stil fortführen.Sind Sie der Meinung, dass der Richterspruch auf den Inhalt des Buches zurückzuführen ist? Oder handelt es sich eher um Repression und die Einschränkung der Freiheit der Literatur?Naji: Wir haben uns beim ägyptischen Geheimdienst erkundigt, ob er hinter dem Fall steht. Die Antwort war "nein". Das heißt, dass der Fall von der Justiz ausging. Die ägyptische Journalistengewerkschaft hat gegen den Staatsanwalt beim "Majlis ad-Dawla" (ein Zusammenschluss von Verwaltungsgerichten, die Rechtsstreite behandeln, in denen staatliche Organe und Parteien beteiligt sind, Anm. der Autoren) Klage erhoben. Der Majlis hat eingeräumt, dass der Staatsanwalt Journalisten nicht verhaften lassen dürfe. Aber der Majlis hat nicht die Befugnis, dem Staatsanwalt Befehle zu erteilen. Letzterer ist in gewissem Maße unabhängig.Das ist unser Problem mit dem ägyptischen Justizsystem. Es ist unabhängig, aber es hat zu viel Macht. Niemand kann es kontrollieren. Zuerst hat Al-SisiNotstandsgesetze verhängt. Schlussendlich haben Adly Mansour und die Justiz ein System der präventiven Sicherheitsverwahrung entwickelt. Es ist eines der verheerenden Probleme, die wir nun in diesem Land haben. Ich habe im Gefängnis Insassen getroffen, die seit über 25 Monaten keine Anhörung beim Richter bekommen haben. Und die ägyptischen Gefängnisse sind randvoll mit diesen Insassen. Viele Intellektuelle haben vor Gericht ein Plädoyer für Sie gehalten. Ist das richtig?Naji:Es gab eine enorme Unterstützung vonseiten arabischer und internationaler Schriftsteller und Intellektuellen. Manche von ihnen sprachen mit Al-Sisi über meinen Fall. Al-Sisi hat ihnen daraufhin die Erlaubnis erteilt, an das Parlament zu appellieren. Es gelang ihnen, mehr als 100 Unterschriften von Parlamentsabgeordneten für einen Änderungsantrag zu sammeln, aber das Justizministerium hat die Initiative abgelehnt.Sie sagen also, dass ihr Fall den Konflikt zwischen der Exekutive und der Justiz widerspiegelt?Naji: Die Staatsgewalt selbst ist gespalten. Das Militär behält die Oberhand; es kann jeden dazu bewegen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Schließlich haben sie die Waffen. Aber es gibt andere Instanzen, die seit jeher gegeneinander kämpfen und das aus dem Grund, dass alle Institutionen schlicht mehr Macht erlangen möchten.Das Gespräch führten Moritz B. und Luisa M.© Qantara.de 2018

Ungeschminkter Autoritarismus

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Die Wahlen haben noch nicht begonnen, da sind bereits zwei Kandidaten im Gefängnis, ein weiterer steht unter Hausarrest. Nun fordert Al-Sisi von jeder Partei, noch rasch einen Gegenkandidaten aufzustellen, ohne auch nur den Anschein von Seriösität im Wahlkampf zu wahren. Von Shady Lewis Botros | Autoritäre Herrschaft muss nicht notwendigerweise gesetzlich verankert sein: Das Einparteiensystem und die ganz offiziell in die Verfassung eingeschriebene Willkürherrschaft verschwinden schon seit längerem schrittweise von der Bildfläche. Genauso wenig ist autoritäre Herrschaft lediglich ein System der Unterdrückung und Repression, das sich auf die Verängstigung der breiten Bevölkerung und alltägliche Einschüchterung stützt. Vielmehr gründet jede autoritäre Herrschaft zumindest in Teilen auch auf dem Versprechen, im Gegenzug für beschnittene Rechte für ein Gefühl der Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Insofern basiert autoritäre Herrschaft nicht bloß auf einem durch die Propagandamaschinerie verbreiteten Geflecht aus Lügen, das die Realität übertünchen soll. Denn schenken die Menschen derartigen Propagandafiktionen nur lange genug Glauben, werden sie für sie zu einer neuen Realität, die dann den Rahmen für ihre Erwartungen an die Regierung und ihr Handeln bildet. Wechselspiel von Angst und Sicherheitsgefühl : Autoritäre Herrschaft spiegelt sich daher eher im Spannungsverhältnis von Gegensätzen verschiedener Art wieder: dem Dualismus von Legalität und Informalität, dem Wechselspiel von Angst und Sicherheitsgefühl, aber auch in der Diskrepanz zwischen dem, was die Regierung sagt und ihrem tatsächlichen Handeln. Autoritäre Herrschaft findet ihren Ausdruck zudem im Zusammenspiel zwischen dem, was öffentlich stattfindet und dem, was hinter verschlossenen Türen verhandelt wird, auch wenn trotzdem alle wissen, was dort vor sich geht. Die Grauzone zwischen den genannten Gegensätzen und die gewollte Unberechenbarkeit, in der der Staatsapparat und seine Repräsentanten selektiv das Gesetz anwenden und formal vorhandene Rechte auch in der Praxis gewähren, bilden den Kern des autoritären Herrschaftssystems und halten es effektiv und langfristig am Laufen. Die Beherrschten gehen derweil in diesem undurchschaubar strukturierten Zwischenraum unter, während sie versuchen im Blindflug zwischen den Polen zu manövrieren, in der Hoffnung auf beiden Seiten herauszuholen, was herauszuholen ist, und sei es durch Zufall. Die Mutigsten unter ihnen möchten die Kluft zwischen den Rändern dieser Grauzone verringern. Sie versuchen, die Regierung dazu zu bringen, nur zu sagen, was sie auch tatsächlich beabsichtigt umzusetzen und öffentlich zu verhandeln, was sich bisher im Verborgenen vollzog, so dass letztlich beides übereinstimmt. Mubaraks Spiel der HerrschaftssicherungDank drei Jahrzenten Erfahrung beherrschte das Regime Hosni Mubaraks dieses Spiel der Herrschaftssicherung – und es gelang ihm, alle Teile der Gesellschaft in dieses System hineinzuziehen. Jede Aktivität, jeder Diskurs und jede Institution wanderte immer auf dem schmalen Grat zwischen Legalität und Informalität. Die in der Ära Mubaraks aktiven zivilgesellschaftlichen Organisationen sind ein gutes Beispiel für die paradoxe Wirkung des Zusammenspiels dieser Pole: Ihre rechtliche Agenda zwang sie dazu, sich auf das Rechtssystem, die Verfassung und den Diskurs des Regimes zu stützen, um es dazu zu bringen, die Kluft zwischen eben diesen und ihrer Umsetzung zu verringern. Das Regime seinerseits hielt die zivilgesellschaftlichen Organisationen unnachgiebig in der Schwebe zwischen Legalität und Informalität. So arbeiteten die meisten Menschenrechtsorganisationen in der Ära Mubaraks zwar im Prinzip auf gesetzlicher Grundlage, ihr rechtlicher Status wurde aber absichtlich im Unklaren belassen.Die Ausdehnung der Grenzbereiche zwischen Legalität und Informalität mit all ihren teils widersprüchlichen Facetten und multiplen Zentren verlieh dem autoritären Regime Mubaraks eine Flexibilität, die sein Fortbestehen sicherte, ohne dass es sich zu sehr auf physische Gewaltanwendung verlassen musste. Dennoch war die Ausdehnung dieser Grauzone nicht nur ein Segen, denn zwischen der stetigen Ausweitung der Grenzbereiche auf der einen und der Notwendigkeit sie einzudämmen auf der anderen Seite, verlor das Regime in den letzten Jahren seiner Herrschaft zusehends die Kontrolle über sie. "Rohe Gewalt" statt Legalität und Informalität: Das Regime Abdel Fattah al-Sisis hat von Anfang an verstanden, dass die Flexibilität des Mubarak-Regimes sich gegen ihn gewandt hatte und konsequent seine Lehren aus dessen spektakulärem Sturz gezogen. Angesichts der auf unabsehbare Zeit schlechten Wirtschaftslage macht Al-Sisi keine Anstalten, eine bessere Zukunft zu versprechen und greift auch nicht auf Lügen zurück: Es stimmt, wenn er sagt, dass das ägyptische Bildungs- und Gesundheitssystem in Scherben liegen. Die Regimemedien setzen sich nicht für die Umsetzung von Menschenrechten und die Verankerung demokratischer Prinzipien ein. Warum auch, wenn die Lösung aller Probleme "rohe Gewalt" ist, wie der Präsident ein ums andere Mal wiederholt. Stattdessen überbieten sie sich gegenseitig in ihrem Bestreben Propaganda für die Willkürherrschaft des Regimes zu betreiben und versuchen erst gar nicht, diese schönzureden. All das geschieht in völliger Offenheit: Während es sich in der Vergangenheit hinter den Kulissen abgespielt hätte, muss heute niemand mehr verheimlichen, dass die Geheimdienste verschiedene private Medien kaufen und steuern.Das Regime verschleppt mögliche Präsidentschaftskandidaten in aller Öffentlichkeit und anschließend geben sie im Fernsehen ihren Rücktritt von der Kandidatur bekannt, als wäre nichts geschehen. Es lässt sogar den ehemaligen Leiter der größten Aufsichtsbehörde des Landes und Stellvertreter einer der Präsidentschaftskandidaten, Hisham Geneina, auf offener Straße überfallen und zusammenschlagen. Bevor die Wahlen in Ägypten überhaupt begonnen haben, sind zwei der Kandidaten im Gefängnis und ein weiterer steht unter Hausarrest. Nun weist das Regime völlig unverhohlen und dreist eine Partei nach der anderen ganz offen an, einen Kandidaten für die Wahlen aufzustellen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, diese Vorgänge zu dementieren oder schönzufärben. Inszeniertes Wahltheater: Stattdessen wird dem Regime in den Kommentarspalten der Zeitungen vorgeworfen, die Inszenierung der Wahl nicht rechtzeitig vorangetrieben zu haben. Denn niemand leugnet, dass es eine Inszenierung ist, lediglich die Ansprüche an die Aufführung wurden dabei scheinbar nicht ganz erfüllt. Nie zuvor wurde eine Wahl so offensichtlich und unverblümt vor den Augen aller inszeniert. Und in der Tat hat das Regime keinerlei Interesse daran, die Wahlen in positivem Licht erscheinen zu lassen. Im Gegenteil, es zieht sie mit voller Absicht ins Lächerliche und verspottet und verunglimpft sie, wo es nur geht. Das Regime lügt nicht, und es will nicht lügen: Jegliche Grauzonen sind verschwunden. Auch wenn es noch welche geben sollte, sind sie kaum der Rede wert. Manche versuchen sich damit Hoffnung zu machen, dass ein derart grobschlächtiges autoritäres Herrschaftssystem aufgrund seiner Trägheit und mangelnder Flexibilität zwangsweise kurzlebiger ist. Das muss allerdings nicht zwangsläufig der Fall sein, denn ein offen autoritäres Regime kann genauso lange Bestand haben, wie ein flexibles, subtiler agierendes Regime – vielleicht sogar länger. Da aber seine Mittel begrenzt sind und sich letztlich in der Regel auf Repression beschränken, fordert es mehr Opfer und kommt die betroffene Gesellschaft ungleich teurer zu stehen. Shady Lewis Botros | © Qantara.de 2018 | Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne | Shady Lewis Botros, Publizist und Psychologe, lebt in London und beschäftigt sich mit der Analyse der psychologischen Dimensionen politischer Diskurse in der arabischen Welt.
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