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Der Haudegen der Cyrenaika gegen den politischen Islam

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Während seine Anhänger den mächtigen libyschen General Haftar als "Erretter Libyens" feiern, verteufeln ihn seine islamistischen Widersacher als "neuen Gaddafi", der eine Konterrevolution gegen die "Revolution des 17. Februars" und die international anerkannte Regierung in Tripolis anführt. Von Faraj Alasha | Die Nachricht, dass General Khalifa Haftar am 5. April 2018 in ein Militärkrankenhaus in Paris eingeliefert werden musste, um sich der Behandlung eines schwerwiegenden gesundheitlichen Problems zu unterziehen, hatte unterschiedliche Reaktionen und Spekulationen in Libyen hervorgerufen. Haftars Unterstützer reagierten geschockt und besorgt, während im Lager seiner islamistischen Gegenspieler Freude ausbrach: Ihre Satellitenkanäle in Doha und Istanbul kolportierten eine vermeintlich bestätigte Nachricht seines Todes von anderen arabischen und internationalen Medien, darunter die für ihren seriösen Journalismus bekannte französische Zeitung Le Monde. Aber nur einige Tage später gab der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian bekannt, dass sich der Gesundheitszustand Haftars verbessert hätte. Die umstrittenste Persönlichkeit Libyens: Wer also ist dieser General, dessen Erkrankung die arabischen und internationalen Medien und Politikkreise derart beschäftigten? Seit er in der Cyrenaika im Osten Libyens unter dem Namen "Operation Würde" eine militärische Kampagne gegen islamistisch geprägte und als terroristisch beschriebene Milizen führte, ist er die umstrittenste Persönlichkeit Libyens geworden. Khalifa Belqasim Haftar wurde 1943 in der Stadt Adschdabiya westlich von Bengasi geboren. 1966 schloss er seine Ausbildung an der königlichen Militärakademie ab und nahm als Oberleutnant im September 1969 am Putsch Gaddafis gegen das damalige Königshaus teil. 1980 wurde er in den Rang eines Obersts befördert und zu einem Befehlshaber der Landstreitkräfte ernannt. Mit dem Ziel einen Regimewechsel herbeizuführen, führte Haftar 1987 unter dem Befehl des Diktators Gaddafi eine großangelegte Militäroffensive gegen den Tschad. Sie endete jedoch in einer schweren Niederlage für die libysche Armee und Haftar geriet zusammen mit Hunderten seiner Offiziere und Soldaten in Gefangenschaft der Streitkräfte des Tschad. Nachdem die Vereinigten Staaten beim Präsidenten des Tschad und seinen französischen Verbündeten interveniert hatten, wurden die libyschen Kriegsgefangenen vor die Wahl gestellt, in ihre Heimat zurückzukehren oder in die USA überzusiedeln. Nur ein Bruchteil von ihnen entschied sich für die Rückkehr nach Libyen, der Großteil zog hingegen die Vereinigten Staaten vor. So auch Haftar, der sich in Virginia niederließ. Dort schloss er sich der libyschen Opposition unter der Führung der "Nationalen Front für die Rettung Libyens" an und bekleidete in dieser das Amt des "Befehlshabers der Nationalarmee". Von seinem Exil aus plante er im Geheimen zusammen mit hochrangigen Offizieren innerhalb Libyens einen Militärputsch. Einige Tage vor seiner geplanten Durchführung im Oktober 1993 wurde der geplante Staatsstreich allerdings aufgedeckt und seine Drahtzieher inhaftiert. Es scheint, als habe sich Haftar infolge des gescheiterten Putschversuchs und seiner Differenzen mit der oppositionellen "Nationalen Front zur Rettung Libyens" von dieser abgewandt und sich auf eine durch Ägypten vermittelte Aussöhnung mit dem libyschen Regime eingelassen. Unter der Bedingung, jegliche politische Oppositionsarbeit gegen das Regime Gaddafis zu unterlassen, gewährte der Deal General Haftar und seiner Familie die Möglichkeit, sich in Ägypten niederzulassen.Vom fiktiven "Cyber-Putsch" zum Anführer militärischer Operationen: Nachdem der Aufstand des 17. Februar 2011 ausbrach, sich schnell in eine bewaffnete Revolution gegen das Gaddafi-Regime verwandelte und Hosni Mubarak in Ägypten bereits gefallen war, kam Haftar über den Landweg nach Bengasi, wo er auf General Abd al-Fattah Yunis traf. Der ehemalige Innenminister Gaddafis hatte sich in der Zwischenzeit vom Regime distanziert und befehligte nun die aus Soldaten und freiwilligen Zivilisten bestehenden Rebellentruppen. Die beiden Militärs gerieten schließlich in einen heftigen persönlichen Streit über den künftigen militärischen Führungsanspruch. In der Folge wurde Haftar von jeglichen leitenden militärischen Aufgaben entbunden.Doch dann tauchte er plötzlich am Abend des 14. Februar 2014 auf dem Bildschirm des saudischen Senders Al-Arabiya auf. Dort gab Haftar in einer aufgezeichneten Putscherklärung bekannt, dass seine Truppen die Kontrolle über militärische Einrichtungen und strategisch wichtige Punkte in der Hauptstadt Tripolis übernommen hätten und erklärte die Arbeit des Parlaments und der Regierung für ausgesetzt. Er legte eine "Roadmap" für die politische Zukunft Libyens vor, ganz so, als wolle er das Vorgehen Al-Sisis in Ägypten wiederholen, allerdings ohne wie dieser über eine starke, vereinte und disziplinierte Armee zu verfügen. Haftars Putscherklärung war reine Fiktion – ein Staatsstreich, der auf die mediale Sphäre beschränkt blieb, denn tatsächlich hatte er gar keine Truppen unter seinem Befehl, nachdem die Sintan-Brigaden auf die er gesetzt hatte, ihn im Stich gelassen hatten.Aber Haftar gab nicht auf. Drei Monate später, im Mai 2014, startete er die sogenannte "Operation Würde" mit nur wenigen hundert Männern der libyschen Armee eine Offensive gegen die bewaffneten islamistischen Gruppierungen, die Bengasi kontrollierten. Ein Großteil der Bewohner der Stadt betrachtete diese Gruppen als Terroristen und machte sie verantwortlich für hunderte von Mordanschlägen auf Angehörige des Militärs, der Polizei und zivilgesellschaftliche Aktivisten in der Stadt. Schnell schlossen sich immer mehr Soldaten und Freiwillige der "Operation Würde" an und Haftar wurde in den Augen der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit, zumindest im Osten des Landes, zum herbeigesehnten Retter. Auf Druck seiner Anhänger im Parlament, der Stammesoberhäupter und anderer einflussreicher Personen sowie durch die Unterstützung der Regionalkommandeure, ernannte ihn der Präsident des Parlaments in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu deren Oberkommandeur und erhob ihn zuerst in den Rang eines Generalleutnants und später sogar eines Feldmarschalls. Auf der anderen Seite verbündeten sich in Tripolis und Misrata im Westen des Landes islamistische Milizen, um die Offensive Haftars zu stoppen, die mit Hilfe Ägyptens und der Emirate die islamistischen Milizen, mit Ausnahme ihres unbedeutenden Rückzugsortes in der Kleinstadt Derna, erfolgreich aus Bengasi und der gesamten Cyrenaika vertrieben hatte. Den politischen Islam durch das Militär stoppen: Haftars Truppen erlangten die Kontrolle über die Ölhäfen und er selbst entwickelte sich in den Worten der französischen Zeitung Le Monde zum "starken Mann der Cyrenaika". Haftar arbeitete aber auch daran, der "starke Mann Libyens" zu werden, sobald das Militär wieder vereint und die Hauptstadt Tripolis mittels eines Übergangsmilitärrates, der eine neue politische Transformationsphase beaufsichtigen soll, unter Kontrolle gebracht worden ist. Aber seine plötzliche Erkrankung und das Stillschweigen über seinen gesundheitlichen Zustand führten in der libyschen Öffentlichkeit zu Fragen und Kontroversen darüber, wie es weitergeht mit seiner militärischen Kampagne "Operation Würde", die das politische Projekt zur Erlangung der Herrschaft über Libyen flankiert.Es stellt sich zudem die Frage, ob seine internationalen Partner wie Ägypten, die Vereinten Arabischen Emirate (VAE) und Frankreich auch einen potenziellen Nachfolger Haftars unterstützen würden. Und wer könnte überhaupt dieser Nachfolger sein? Es scheint offensichtlich, dass sein Verschwinden von der politischen Bühne eine Schwachstelle im Gefüge der zentralen Führungsfiguren des Oberkommandos der Armee hinterlassen würde. Das liegt zum einen an seiner äußerst charismatischen Persönlichkeit und seinen engen Beziehungen zu seinen regionalen (Ägypten, VAE) und internationalen Partnern (Frankreich und Russland). Zum anderen wäre sein militärisches Projekt "Operation Würde", also der Versuch, den Terrorismus zu bekämpfen und dem politischen Islam Einhalt zu gebieten, indem das wiedervereinte Militär seine Kontrolle über das Land verstärkt, ohne Haftar nicht mehr, was es mit ihm war. Denn es ist ein Projekt, das seine Anhänger und seine Widersacher gleichermaßen mit der Person Haftars verbinden. Libyens Erretter oder neuer Gaddafi? : Während seine Anhänger ihn in einem Maß als "Erretter" idealisieren, das an Personenkult grenzt, verteufeln ihn seine islamistischen Widersacher als "neuen Gaddafi", der eine Konterrevolution gegen die "Revolution des 17. Februars" anführt. Sie sehen sich als deren wahre Revolutionäre, die im Auftrag Gottes handeln. Und sie gehen davon aus, dass ein umfassender politischer Konsens, der ihnen den Löwenanteil der Macht sichert, ohne den mächtigen General schneller erreicht werden kann. Im Lager des Generals gibt es hingegen ernsthafte Befürchtungen, dass es zwischen der militärischen Führung im Osten und der im Süden des Landes zu Auseinandersetzungen über das Anrecht auf die Nachfolge Haftars kommen könnte. Darüber hinaus zirkulieren Nachrichten über eine ägyptisch-emiratische Intervention mit dem Ziel, eine für sie zufriedenstellende Nachfolge für Haftar zu installieren. Auch wenn es im Zuge des Kampfes um die Nachfolge Haftars zu bewaffneten Konfrontationen und vereinzelten Mordanschlägen zwischen den Parteien kommen könnte, wird sich die Situation unter keinen Umständen zu einem komplizierten militärischen Großkonflikt im tribalen Kontext zuspitzen. Dafür zeichnet sich das soziale Gefüge der Stämme in der Cyrenaika seit jeher zu sehr durch großen Zusammenhalt aus. Außerdem verachten sie die islamistischen Gruppierungen wegen ihrer Terroranschläge und ihren Griff nach der Alleinherrschaft. Sofern Haftar nicht zurückkehrt, wird wohl ein neuer Befehlshaber für die Armee ernannt werden, abgesegnet durch das Parlament in Tobruk. Dann steht der Kampf um Derna und die Befreiung der Stadt von den letzten Überresten der islamistischen Milizen im Osten des Landes bevor. Faraj Alasha | © Qantara.de 2018 | Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne | Der libysche Publizist und Schriftsteller Faraj Alasha lebt in Bengasi.

Zeugnis einer gescheiterten Revolution

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Alaa al-Aswanis neuer Roman ist das erste umfassende literarische Zeugnis der ägyptischen Revolution von 2011 und das tragische Schicksal ihrer jungen Protagonisten, die der teuflischen Koalition aus Muslimbrüdern und Armee zum Opfer fielen. Eine Rezension des libanesischen Schriftstellers Elias Khoury | Aus zwei Gründen hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages einen Schriftsteller und sein Buch als mutig bezeichnen würde: Erstens bin ich niemand der gerne Adjektive benutzt, denn die Eigenschaften des Beschriebenen sollten auch ohne sie im Text deutlich werden. Daher verkommen Adjektive oft zu überflüssigen Ausschmückungen, die literarischen Mängel übertünchen sollen.Zweitens muss Literatur über die Zuweisung von Eigenschaften hinausgehen, sonst verdient sie ihren Namen nicht. Ein Romanautor muss über das schreiben, was in ihm arbeitet. Das muss er mit Aufrichtigkeit tun, der Wahrheit verpflichtet. Aufrichtigkeit aber hat nichts mit Mut oder Feigheit zu tun: Entweder ist man als Autor eine Stimme des Gewissens, oder man lässt das Schreiben besser sein. Wer mit Angst schreibt, erweist der Literatur einen Bärendienst.Obwohl ich also Adjektive nur sehr ungern verwende, komme ich nicht umhin, Alaa al-Aswanis neuen Roman als mutig zu bezeichnen."Die Republik als ob" ist kürzlich im Verlag "Dar al-Adab" in Beirut erschienen und nicht nur in Ägypten, sondern auch in mehreren anderen arabischen Unrechtsstaaten der Zensur zum Opfer gefallen.Es sind nicht Erzählweise oder Stil die das Prädikat mutig rechtfertigen. In dieser Hinsicht führt Al-Aswani das fort, was er bereits mit "Der Jakubijân Bau" und seinen Folgewerken begonnen hat. Er kombiniert einen feinen Sinn für die gesellschaftliche Analyse mit seinem Detailwissen über das alltägliche Leben in Ägypten. Er bietet den Leserinnen und Lesern damit eine Mischung aus melodramatischen Elementen, Sehnsüchten und einem dramaturgischen Aufbau im Stil von Fernsehserien, was tatsächlich das Zeug dazu hat, zu einem arabischen Bestseller zu werden, wie es sie seit den Romanen von Ihsan Abdel Quddus nicht mehr gegeben hat.Verzicht auf elitären DünkelAl-Aswanis literarisches Schaffen ist jedoch vielschichtiger als der von Abdel Quddus gepflegte Stil. Es ist ihm gelungen, die klassische, von Nagib Mahfuz perfektionierte Erzählweise auf eine Art zu adaptieren, die sie einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Das arabischsprachige Publikum dürfte sich bei der Lektüre von "Der Jakubijân Bau" in eine Neufassung von Mahfuz'"Miramar" versetzt fühlen, in der Al-Aswani den jungen Kommunisten durch einen islamistischen Extremisten ersetzt hat.Der geschickte Einsatz seines literarischen Könnens macht Al-Aswani zum einzigen arabischen Autor, der beständig in den Bestsellerlisten auftaucht. Andere Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Youssef Ziedan, Ahlam Mosteghanemi und Khaled al-Khamissi sind an dieser Aufgabe gescheitert.Der Erfolg Al-Aswanis ist ein positives Signal für die arabischsprachige Literaturlandschaft. Der gelernte Zahnarzt hat gezeigt, dass er das Handwerk der Schriftstellerei perfekt beherrscht. Er versteht sich darauf, die Geschichten seiner Charaktere, die immer nah an den Lebensrealitäten der ägyptischen Gesellschaft geschrieben sind, mit Hilfe vielschichtiger miteinander verwobener Erzählstränge zu entfalten.Er trifft so den Geschmack eines breiten Publikums mit einer Mischung aus Realismus und Melodramatik. Obwohl er dabei nicht mit den vorherrschenden kulturellen Vorstellungen bricht, zeigt er so doch andere Facetten der krisengeschüttelten ägyptischen Gesellschaft, die angesichts von Armut und Elend, dem repressiven Sicherheitsstaat und dem Verlust des moralisch-ideologischen Kompasses immer mehr die Hoffnung verliert.Inmitten einer Geschichte über die RevolutionZu Beginn des Romans trifft der Leser auf Ashraf und seine Wohnung am Tahrir-Platz. Seine persönliche Krise, seine zerfallende Ehe und das Gefühl der Freiheit, das er durch die Revolution und seine Liebe zur Hausangestellten Ikram gewonnen hat, setzt Al-Aswani ganz in der Tradition seines bisherigen Schaffens geschickt ein, um seine Leserinnen und Leser in die Geschichte zu verwickeln.Das jedenfalls ist der erste Eindruck, denn Ashraf gewinnt die Sympathie des Lesers. Dann allerdings merkt man plötzlich, dass der Roman den Leser stattdessen inmitten einer Geschichte über die Revolution des 25. Januar mitsamt all ihrer Irrungen und Wirrungen katapultiert hat.[embed:render:embedded:node:19671]Man kann kritisieren, dass der Roman zu sehr durch die Inszenierung der Verschwörung dominiert wird, in deren Zentrum der Chef der Sicherheitsdienste Ahmad Elwani steht. Denn Al-Aswani lässt den militärischen Geheimdienst sofort mit Beginn der Revolution eine Verschwörung spinnen, die der "Die Republik als ob" einen Touch von Spionage-Thriller verleiht und zuweilen verhindert, dass andere Handlungsstränge voll zur Entfaltung kommen.Eingekerkert, gefoltert und getötetNatürlich ist es Al-Aswanis gutes Recht, die Handlung um das Verschwörungsszenario aufzubauen. Das eigentliche Vermächtnis des Romans liegt aber darin, dass er das erste und bisher einzige umfassende literarische Zeugnis der Revolution und des tragischen Schicksals ihrer jungen Protagonisten ist, die eingekerkert, gefoltert und getötet wurden. "Die Republik als ob" dokumentiert die Geschichte derer, die dem teuflischen Pakt zwischen den Muslimbrüdern und der Armee zum Opfer fielen, bevor die Allianz zerbrach und im Putsch gegen die Regierung Mursis und dem Massaker auf demRabaa al-Adawiya-Platz in Kairo endete.Diese bisher einmalige literarische Aufarbeitung der Ereignisse ist die wahre Stärke des Buches und begründet sein dokumentarisches Potenzial. Indem er die Geschichte der Revolution und ihrer jungen Protagonisten erzählt und schildert, wie Armee und Muslimbrüder den Traum vom Wandel für ihre Interessen instrumentalisieren, erinnert uns Al-Aswani an den Schmerz, der sich tief in das ägyptische Kollektivgedächtnis gebrannt hat.Der Roman ist gesponnen aus einem reichhaltigen Repertoire an Protagonisten, die in unterschiedlichsten Beziehungen zueinander stehen: Da sind zum Beispiel der bereits erwähnte General Elwani und seine Tochter Dania, die mit Khalid befreundet ist, der während der Revolution ums Leben kommt. Sein Tod wiederum entfacht den Funken der Revolution in seinem Vater, dem armen Taxifahrer Madani. Die Leser bekommen aber auch Einblick in die Geschichte der Fernsehmoderatorin Nurhan und ihrer drei Ehemänner und lernen Scheich Schamil kennen, dessen salafistische Ideologie sich bestens mit den Interessen von autoritären Herrschern, Großkapitalisten und Betrügern verträgt. Ebenso werden sie Zeuge der Liebe zwischen Mazin und Asmaa und haben Teil am Arbeitskampf der Belegschaft einer Zementfabrik.Al-Aswani bedient sich der ganzen Trickkiste des Romanschreibens: von Kurznachrichten über Erlebnisberichte und cineastische Szenenwechsel bis hin zum Spannungsaufbau im Stil eines Thrillers, werden verschiedenste Stilmittel und Methoden eingesetzt, um eine Geschichte zu schreiben, die die Realität schonungslos widerspiegelt. Zuweilen wirken seine Charaktere zwar etwas stereotyp und oberflächlich, letztlich funktionieren sie aber gut als Mittel, um die Niederschlagung der Revolution und den Aufstieg der Gegenrevolution nachzuzeichnen.Schonungslose Aufarbeitung der RevolutionDie Bedeutung dieses Buches gründet allerdings weder auf seiner stark an die Ära Mahfuz' erinnernde Erzählweise, noch auf der stereotypen Darstellung einiger Figuren oder der einfach und eingängig gehaltenen Sprache. Dafür legt es nicht nur ein beeindruckendes und detailreiches Zeugnis über die Ereignisse der Revolution von 2011 ab. Es porträtiert auch auf eindrückliche Art eine neue Generation von Ägyptern und Ägypterinnen, die trotz des politischen Stillstandes im Land nach den Sternen greifen wollte. Sie musste jedoch an den Spätfolgen der jahrzehntelangen autoritären Herrschaft scheitern, die zur Folge hatte, dass Armee, Geheimdienste und Muslimbrüder die einzigen wirklich organisierten Kräfte in Ägypten waren.Al-Aswani durchbricht mit seinem Roman die Kultur des Schweigens. Gemeint ist jenes Schweigen im Kunst- und Kulturbetrieb, das sich um das schreckliche systematische Unrecht hüllt, das nicht nur in Ägypten, sondern auch in anderen autoritären arabischen Regimen geschah und geschieht und das seinen bitteren Höhepunkt in Syrien erreichte, wo Repressionen an der Tagesordnung waren und letztlich Tod und Verderben den Sieg davongetragen haben.Das Traurige ist, dass die ägyptische Kulturszene angesichts des Repressionsapparates in sich zusammengefallen ist. Es scheint als ob die tonangebenden Stimmen in der Gesellschaft mit dem Verweis auf die Gefahr durch Islamisten die Opposition mundtot gemacht und Kritiker zum Schweigen gebracht haben. Nicht nur das! Die Konterrevolution hat wohl auch eine neue Ära autoritärer Herrschaft eingeleitet, die noch repressiver agiert und völlig ungeniert selbst mit dem kleinsten Maß an Menschlichkeit bricht.Mutig ist dieser Roman deshalb, weil er das Schweigen bricht. Das erfordert einen mutigen Schriftsteller wie Alaa al-Aswani; und es ist dieser Mut, der "Die Republik als ob"als Zeugnis unserer Zeit und ihrer geplatzten Träume so lesenswert macht.Elias Khoury© Qantara.de 2018Aus dem Arabischen von Thomas Heyne

Sufis, Scheichs und Scharlatane

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Der Sufismus hat in Ägypten eine jahrhundertelange Tradition. Nun fördert die Regierung die Mystiker, um den Islamismus zu schwächen. Manche fürchten, dass die Essenz der Strömung darüber verlorengeht - aber der Sufi-Trend bringt auch noch andere merkwürdige Phänomene hervor. Von Christian Meier aus Kairo | Wenn er auf der Bühne stand und den Dhikr vollzog, erzählt Essam Abdou, dann sei es gewesen, als ob er fliege. Dann spürte er die Energie seiner Bandkollegen auf ihn übergreifen, die sich zusammen mit ihm dem Sufi-Ritual hingaben, den Namen Gottes rhythmisch auszusprechen, immer schneller, immer lauter, bis zur Ekstase. Alles Negative wich dann von ihm. Es war wie eine Meditation, sagt Abdou und verbessert sich sogleich: Nein, es war besser als das. Du gehst an die Extreme mit deiner Stimme - und mit deiner Seele. Dabei war Essam Abdou selbst nicht einmal ein Sufi, ein Anhänger der mystischen Strömung des Islams. Und er ist es auch heute nicht. Vor einem Jahr hat der inzwischen 34 Jahre alte Ägypter die Sufi-Band "Al Hadra", die er mitgegründet und in der er gesungen hatte, sogar verlassen. Nicht im Guten. Um die Gründe dafür zu verstehen, muss man etwas mehr wissen über den Sufismus - und über Ägypten heute, fünf Jahre nach dem Ende der Herrschaft der islamistischen Muslimbrüder und der Machtübernahme durch Abdel Fattah al-Sisi, den Präsidenten, der im Frühjahr für eine zweite Amtszeit gewählt wurde. Von der "Sisi-Mania" bis zur offenen Ablehnung Als Sisi den damaligen Präsidenten Mohamed Mursi am 3. Juli 2013 abgesetzt hatte, schien der Personenkult um den neuen starken Mann ins Unermessliche zu wachsen. So groß waren die Wunden der Revolution und des anschließenden verworrenen Kampfes zwischen den Islamisten, den säkularen Revolutionären und den Anhängern des alten Regimes, so groß die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung, dass viele Ägypter glücklich darüber waren, wieder einen Militär am Ruder zu sehen. Das Schlagwort der "Sisi-Mania" machte die Runde, es gab Devotionalien bis hin zu Schokolade und Unterwäsche, und Politiker und einfache Bürger überboten sich in Ehrbezeugungen.Und heute? "Unter Mubarak war alles besser", sagen manche Ägypter, wenn sie auf den erbarmungswürdigen Zustand der Wirtschaft angesprochen werden. Oder: "Sisi, geh weg!" - ein Hashtag, der so lautete, machte kürzlich wieder die Runde im Internet. Sisi war so getroffen, dass er bei einer Rede sogar dazu Stellung nahm und sich darüber beklagte, dass sein Einsatz für das Land nicht gewürdigt werde. Vor allem in westlich orientierten Kreisen macht man sich offen über den Präsidenten lustig. Aber natürlich waren die 97 Prozent Zustimmung, die Sisi im März bei der - stark gelenkten - Wiederwahl erhielt, kein komplett erfundenes Ergebnis. Und zum anderen: In den Spott mischt sich Furcht. Kurz nach der Machtübernahme hat das Regime begonnen, systematisch den Raum für die Opposition und für die Zivilgesellschaft zu beschränken, der sich während der Arabellion 2011 geradezu explosionsartig vergrößert hatte. Alles unter Kontrolle Die jüngste Maßnahme ist ein neues Mediengesetz. Wenn der Präsident es unterzeichnet hat, steht die Verbreitung von "Fake News" unter Strafe, wobei alle Internetseiten, Blogs und Konten in den sozialen Netzwerken, die mehr als 5.000 Abonnenten haben, als Medien gelten. Ohnehin ist Ägypten nach Aussage der Organisation "Reporter ohne Grenzen" derzeit "eines der größten Gefängnisse für Journalisten auf der Welt".Der übrigen Zivilgesellschaft ergeht es nicht viel besser. Nichtregierungsorganisationen können, seit es ein neues Gesetz zur Regelung ihrer Arbeit gibt, in Ägypten nur noch sehr eingeschränkt agieren. Und wer erwartet hatte, dass sich nach Sisis Wiederwahl wieder etwas Freiraum öffnen würde, wurde eines Besseren belehrt: Mehrere Oppositionelle wurden in den vergangenen Monaten verhaftet und angeklagt. Einer, der 2011 auf dem Tahrir-Platz eine wichtige Rolle gespielt hat, sagt: "Praktisch alle, die damals zusammen mit mir dort waren, sind heute entweder tot, im Gefängnis oder haben das Land verlassen." Er selbst entkam nur knapp einer Verurteilung - und hält sich seither bedeckt. Wie die meisten. Die Revolution, für die sie gekämpft hatten, endete endgültig vor fünf Jahren, am 14. August 2013, als Sicherheitskräfte auf zwei Plätzen in Kairo in einem Blutbad mehr als 800 Anhänger der Muslimbrüder töteten. Auch wenn die liberalen Revolutionäre und die Islamisten Gegner waren - nach diesem Tag war klar, dass das Regime keine Infragestellung seiner Herrschaft mehr dulden würde. Die heterogene islamistische OppositionDie Regierung in Kairo stellt naturgemäß andere Aspekte in den Vordergrund. Nach wie vor steckt Ägypten in einem schweren Kampf gegen islamistische Terroristen. Das Regime tendiert dazu, alle in einen Topf zu werfen - die zur Terrororganisation erklärte Muslimbruderschaft und die Dschihadisten vom "Islamischen Staat" (IS) und anderen Organisationen, die den Sicherheitskräften seit Jahren auf der Sinai-Halbinsel zusetzen. Das islamistische Spektrum ist aber breit und heterogen, es umfasst neben den genannten Gruppen beispielsweise auch nicht-dschihadistische Salafisten, die sich zum Teil mit dem Regime arrangiert haben. Ihr Einfluss und jener der geächteten Muslimbrüder ist zurückgegangen, aber nicht völlig verschwunden - die ägyptische Gesellschaft ist tief geprägt vom Islamismus, das Land war die Geburtsstätte dieser Ideologie. Für das Regime bleibt damit eine Bedrohung bestehen, sosehr man den politischen Islamismus auch in den Untergrund drängt.Und wo in diesem Bild sind die Sufis? Sufis sind, wenn man den Einschätzungen ägyptischer Beobachter und Experten Glauben schenkt, die Lösung. "Der Plan lautet Sufismus, ich habe das mit eigenen Augen gesehen", sagt Abdou, der frühere Sufi-Sänger. Er ist nicht der Einzige, der eine neue Wertschätzung des mystischen Islams von Seiten des ägyptischen Regimes wahrnimmt. Sufismus im Aufwind Es sei schwierig, das auf konkrete Einzelereignisse zu beziehen, aber übereinstimmend berichten Gesprächspartner, dass die öffentliche Sichtbarkeit des Sufismus gefördert werde, etwa durch mehr Sendezeit im Fernsehen. In den vergangenen Jahren wurden auch mehrere neue Bruderschaften zugelassen, darunter im Frühjahr dieses Jahres eine unter der Führung des früheren ägyptischen Großmuftis Ali Gomaa. Und es ist offenkundig, dass der Aufschwung des Sufismus in der Bevölkerung auf Widerhall stößt. Essam Abdous vor zweieinhalb Jahren gegründete Band trat anfangs vor kleinem Publikum auf, "wir waren arme Künstler ohne irgendwelche Unterstützung", sagt er. Die Auftrittsorte wurden immer größer, bis die Gruppe irgendwann für das Kairoer Opernhaus gebucht wurde."Das war wie im Traum", erinnert Abdou sich. Er und die übrigen 15 Bandmitglieder standen dort vor mehr als tausend Menschen auf der Bühne und vollführten ihre religiösen Gesangsrituale. Für einen Zufall hält er die rasante Karriere von "Al Hadra" nicht. Er glaubt, dass die Band zum einen den Nerv der Zeit traf. Und zum anderen, dass sie vom Staat unterstützt wurde. "Sie wollen Sufis statt IS", sagt er.Vor allem viele junge Ägypter interessieren sich auf einmal für die Mystik. Leute wie Abdullah El Agamawy, ein 23 Jahre alter Kairoer, der seit einem Jahr Mitglied der Burhaniya-Sufis im Stadtteil Mohandessin ist. Er sei eher aus Neugierde hingegangen, nachdem eine Freundin ihn gefragt habe, berichtet El Agamawy; dann habe er aber eine "Verbindung" gespürt. Eine Botschaft von "Liebe und Frieden" Beim traditionell gelehrten Islam gehe es immer nur darum, was man tun und lassen müsse, um in den Himmel und nicht in die Hölle zu kommen, sagt der Grafikdesigner. Der sufische Islam dagegen vermittle eine Botschaft von "Liebe und Frieden". Sufis stehen für das mystische, spirituelle, friedfertige Gesicht des Islams, der so oft mit Gewalt und Buchstabengläubigkeit assoziiert wird. Touristen kennen die tanzenden Derwische, die in der islamischen Altstadt Kairos auftreten, oder die Schriften Rumis, die sich zu Bestsellern entwickelt haben. Aber der Sufismus ist vielfältig; die Orientalistin Annemarie Schimmel schrieb, sein Raum reiche "von höchsten metaphysischen Spekulationen bis in die Welt der einfachen Dorfbewohner fernab der theologisch gelehrten Welt". Auch in Ägypten ist der Sufismus eng mit der lokalen Kultur verwoben, für viele Menschen ist er ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Aber zumindest was das offizielle Gesicht des Islams in dem Land angeht, stand der Sufismus bis vor kurzem eher am Rande.Dabei erstrecken sich die Sufi-Orden über das ganze Land. Bis zu 15 Millionen der rund 100 Millionen Ägypter, so lauten manche Schätzungen, sind Mitglieder in den Gemeinschaften, die auf Arabisch "tariqa" heißen - nach dem spirituellen "Weg" zu Gott, den ihre Anhänger beschreiten. Sie treffen sich zu meist wöchentlichen Sitzungen mit ihrem Scheich, der "hadra" genannt wird, und einmal im Jahr feiern sie ein großes "maulid", ein mehrtägiges religiöses Fest aus Anlass des Geburtstags ihres Ordensheiligen. In Ägypten gebe es im Jahr etwa 3.000 Maulids, berichtete die BBC im Jahr 2016. Sie ziehen Millionen Besucher an, denn sie stehen ebenso sehr für Spiritualität wie für Spektakel: Maulids sind halb Pilgerfahrt und halb Jahrmarkt. Handkuss für den "Scheich des Platzes" Der Sufi-Heilige, dessen in diesen Tagen in dem Kairoer Stadtteil El Marg gedacht wird, hieß Scheich Muslah al Salama. Laut der Aufschrift auf dem kleinen Mausoleum starb er im Jahr 1335 nach der Hidschra, was den Jahren 1916/1917 entspricht. Die dazugehörige Moschee liegt am Ende einer dunklen, sandigen Seitenstraße des ärmlichen Viertels, hinter einem Friedhof, der von drei Seiten von Wohnhäusern eingezwängt ist. Das mit Glühbirnen behängte Minarett der Moschee sendet farbige Signale in die brütend heiße Nacht. Im Hof herrscht buntes Treiben: Familien flanieren an Ständen vorbei, an denen Spielzeug und Heilmittel aller Art angeboten werden. Alte Scheichs in blütenweißen Gewändern haben es sich auf Bänken bequem gemacht, während die Jüngeren sich zum Dhikr zusammenfinden. Lärmend dringen die Gesänge und Gebete aus den Lautsprechern. Der Tee ist heiß, süß und schmeckt nach Zimt. Die lokale Sufi-Gemeinschaft, die den Hof und die Moschee betreibt, gehört der großen Ordensfamilie der Rifais an. Ihre Mitglieder hier sind leicht erkennbar: Zu ihren weißen oder dunklen Gewändern tragen sie knallgelbe Gebetskäppchen oder Schals. Auf einer Bank sitzt Scheich Kamal, das lokale Oberhaupt der Gemeinschaft. Männer begrüßen den 74 Jahre alten "Scheich des Platzes" mit Handkuss. Scheich Kamal erklärt, warum die Rifais in El Marg, anders als in dem Orden üblich, nicht Schwarzweiß tragen. Die Familie von Scheich Muslah al Salama führe ihre Linie bis zu einigen Gefährten des Propheten Mohammed zurück, die in seiner Armee gekämpft hätten. Die Bannerfarbe ihrer Einheit sei Gelb gewesen. Als die Familie in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts dem Rifai-Orden beitrat, so Scheich Kamal, habe sie ausgehandelt, das Gelb behalten zu dürfen. Etwa eine halbe Million Besucher, so heißt es, kommt an den Haupttagen des knapp zwei Wochen dauernden Maulids hierher. Christian Meier © Frankfurter Allgemeine Zeitung 2018

Was vom Arabischen Frühling übrig blieb

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Von der Aufbruchsstimmung und den Hoffnungen des Arabischen Frühlings ist wenig geblieben. Dennoch ist eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor 2011 ausgeschlossen. Loay Mudhoon kommentiert. | Ein kurzer Blick auf die politische Landkarte acht Jahre nach der revolutionären Dynamik im Zuge des Arabischen Frühlings dürfte ausreichen, um zu erkennen, dass von den Hoffnungen der Menschen auf ein Leben in Demokratie und Würde nicht viel geblieben ist. Statt "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" folgte auf den Ausbruch der Arabellion, der größten Massenmobilisierung der arabischen Völker in der jüngsten Geschichte, viel Chaos und Zerstörung: In Libyen droht der Staatszerfall, im Jemen, dem arabischen Armenhaus, sprechen die Vereinten Nationen heute von der größten humanitären Katastrophe der Welt. In Ägypten herrscht eine beängstigende, trügerische Friedhofsruhe. Gleichzeitig sind mehrere Umbruchstaaten zu Austragungsorten für regionale Konflikte mutiert. Der komplexe Syrien-Konflikt ist nach Jahren brutaler Kämpfe mit konfessionellem Anstrich zum regionalen und internationalen Stellvertreterkrieg geworden. Aus einem friedlichen Volksaufstand gegen die Schreckensherrschaft des Assad-Clans ist inzwischen ein Weltkonflikt geworden.  Nur in Tunesien, dem Mutterland der Arabellion, könnte der Übergang von der Diktatur zur Demokratie gelingen, vor allem wenn das Land seine wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekäme. Das tunesische Demokratiemodell sollte der Westen jedenfalls weiter hegen und pflegen. Autoritäre Restauration und Reformstillstand Aber wie konnte es dazu kommen? Warum ist von der Aufbruchstimmung des Arabischen Frühlings, von der Hoffnung auf ein besseres Leben in Freiheit und Würde so wenig geblieben? Dafür gibt es sicher viele Gründe. Sie liegen in erster Linie im Erbe der Diktatur und weniger in der Kultur begründet. Um die Entwicklung zu verstehen, müssen wir uns eine Tatsache vergegenwärtigen: Die Arabellion hat die Krise der arabischen Nationalstaaten offenbart - und nicht ausgelöst.Die Hauptursache der Krise liegt im kolossalen Versagen der herrschenden (Militär)-Eliten beim Aufbau von moderner Staatlichkeit. Denn diese Eliten kontrollieren die schwachen Institutionen und Ressourcen des Staates und verwenden sie allzu häufig zum eigenen Nutzen. Sie haben sich nach und nach vom Alltag der "Otto Normal-Araber", von den Sorgen der Mehrheit der Bevölkerung abgekoppelt. Als verheerend für die Identifikation arabischer Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat erwies sich abermals die Aufkündigung des Sozialvertrags, vor allem in Ägypten.  Und so wurden fast alle arabischen "Republiken der Angst" im Laufe der Zeit ökonomisch schwächer, aber auch repressiver. Die islamistischen Parteien entwickelten sich zu einer Gegenmacht im Staat, haben jedoch die humane Entwicklung gehemmt.Die andere Möglichkeit, nämlich eine liberal-bürgerliche Ordnung, haben die arabischen Regime bewusst bekämpft. Arabische Despoten machten sich über Islamisten nicht so viele Sorgen, weil sie wussten, dass sich der Westen im Zweifelsfall für sie als das "kleinere Übel“ entscheiden würde. Reformstillstand nach der Arabellion Die ab 2013 erfolgte autoritäre Restauration in vielen Umbruchstaaten liefert keine Antwort auf die großen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft in den arabischen Ländern. Diese Entwicklung ist insofern besorgniserregend, als sich die sozioökonomischen Bedingungen, die letztendlich zu den arabischen Revolutionen geführt haben, sogar massiv verschlechtert haben: Heute ist jeder dritte Araber unter 23, und die arabische Welt braucht in den nächsten 20 Jahren 50 Millionen Jobs, von denen niemand weiß, wo sie herkommen sollen. Zur Wahrheit gehört auch, dass die ökonomische Neoliberalisierung der arabischen Wirtschaftssysteme, die die alten Eliten vor 2011 durchgesetzt hatten, entscheidend zur Marginalisierung der Unter- und Mittelschichten beitrug.  Vor allem die Durchsetzung der  verschärften Vorgaben von IWF und Weltbank in Ägypten und Tunesien wie die rücksichtlose Privatisierungsprogramme und die faktische Zerschlagung der Staatsbetriebe haben die Rolle des Staates als Hauptarbeitsgeber massiv geschwächt. Diese Entwicklung erklärt auch die hohe Arbeitslosigkeit insbesondere unter jungen Absolventen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Länder wie Ägypten ohne tiefgreifende, politische und wirtschaftliche Reformen bald unregierbar werden. Genau hier sollten westliche Bemühungen ansetzen: Deutschland und seine Partner sollten ihre Hilfsangebote an Bedingungen knüpfen. Dazu gehören Fortschritte (auch kleine) bei der Bekämpfung der verbreiteten Korruption, bei der Durchsetzung von Wirtschaftsreformen für die Mittelschicht und bei der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Rechtsstaatlichkeit.  Abstand sollte man in den westlichen Hauptstädten von der Illusion der Stabilität durch vermeintlich starke Repressionsstaaten nehmen. Denn eine Tyrannei ist in Wahrheit nie stabil. Loay Mudhoon © Qantara.de 2018

Mit Kanonen auf Spatzen

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Die ägyptische Regierung hat ihre Militäroperationen auf der Sinai-Halbinsel verstärkt, um den dschihadistischen Aufstand endgültig niederzuschlagen. Doch obwohl bereits Hunderte gestorben sind, hält die Rebellion der radikalen Islamisten unvermindert an. Tom Stevenson informiert. | Am 24. November 2017 erlebte Ägypten den bis dahin schlimmsten Terrorangriff seiner jüngeren Geschichte. Der Anschlag ereignete sich in der Stadt Bir al-Abed auf der nördlichen Sinai-Halbinsel. Dutzende Kämpfer der Gruppe "Wilayat Sinai", die mit dem "Islamischen Staat" verbunden ist, umstellten die dortige Rawda-Moschee und eröffneten wahllos das Feuer auf die Gläubigen. Nach dem Massaker waren 305 Menschen tot, darunter 27 Kinder. Als Reaktion auf diesen Angriff versprach Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi, den Aufstand, der den Sinai bereits seit 2001 unsicher macht, mit "brutaler Gewalt" zu beenden. Dazu rief er ein Militärprogramm namens Operation Sinai 2018 ins Leben. Die ägyptischen Streitkräfte schnitten die großen Städte und Straßen des nördlichen Sinai von der Außenwelt ab, führten Luftangriffe durch, kontrollierten die Meerwege und setzten auf eine umfassende elektronische Überwachung der Kommunikation. Seit das Programm zu Beginn dieses Jahres eingeführt wurde, konnten sie – laut eigenen Angaben – bereits über 450 Aufständische töten. Die ägyptische Regierung bezeichnete ihr Programm "Sinai 2018" denn auch als "entscheidenden Schlag" gegen die Dschihadisten im Nordsinai. Kritiker hingegen meinen, die Militäraktion sei lediglich ein weiterer gescheiterter Versuch, die Krise mit militärischen Mitteln in den Griff zu bekommen. Immer tiefer in den militärischen Konflikt Doch trotz des neuen Anti-Terrorkampfs geht der dschihadistische Aufstand weiter. Ein ägyptischer Militärexperte, der mit Qantara.de über das Programm sprach und anonym bleiben wollte, sagte, der Kampf habe den Gegner "nur noch tiefer in die Militanz getrieben". Allein in den ersten beiden Novemberwochen erklärte sich "Wilayat Sinai" für acht verschiedene Anschläge im Nordsinai verantwortlich. Am 15. November veröffentlichte die Gruppe ein 42-minütiges Video, das ihre jüngsten Aktionen dokumentiert. Die Bilder zeigen Sprengstoffattentate auf Soldaten, Kontrollpunkte dschihadistischer Milizen im Nordsinai und einen M60-Patton-Panzer aus US-amerikanischer Produktion, den die Gruppe vermutlich von ägyptischen Sicherheitskräften erbeutet hat. Die Angaben der ägyptischen Regierung über die Anzahl der getöteten "Wilayat-Sinai"-Kämpfer könnten auf den Grund hindeuten, warum es weiterhin so viele Anschläge gibt. Angeblich hat die Regierung in den letzten sechs Jahren viel mehr Aufständische getötet als die 1.000 Kämpfer, die zu Wilayat Sinai gehören. "Die ägyptischen Sicherheitskräfte neigen dazu, militärische Erfolge zu beschönigen und Misserfolge zu kaschieren, indem sie die Anzahl der getöteten Gegner faken", so der ägyptische Militärexperte. "Dass sie angeblich mehr als die Hälfte der dschihadistischen Aufständischen getötet haben, finde ich kaum vorstellbar."Es existieren zwar kaum verlässliche Statistiken, aber klar ist, dass dieses Jahr im Nordsinai sehr schwer gekämpft wurde. Laut Untersuchungen der ägyptischen Armee und Veröffentlichungen des Innenministeriums wurden zwischen Januar und Juni im Kampf gegen den Terror 120 ägyptische Sicherheitskräfte getötet, die meisten von ihnen fielen im nördlichen Sinai. Führende Terroristen zu töten ist ineffektiv Mit ihrem Programm "Sinai 2018" war die ägyptische Regierung teilweise erfolgreich – insbesondere im Kampf gegen führende Mitglieder von "Wilayat Sinai". In dem am 15. November veröffentlichten Video bestätigte die Gruppe den Tod ihres ehemaligen Anführers Abu Osama al-Masri, der wahrscheinlich einem Luftangriff zum Opfer fiel. Und bereits im August 2016 war Al-Masris Vorgänger Abu Duaa al-Ansari durch einen israelischen Luftschlag getötet worden."Der ägyptische Geheimdienst ist bei seinem Versuch, führende Mitglieder der 'Wilayat Sinai' auszuschalten, durchaus erfolgreich gewesen", meint Zack Gold, Analyst am Institute for Security Studies. "Aber die Frage ist, welchen Effekt es wirklich hat, die Anführer der Terrorgruppe zu töten. Verliert die Gruppe wirklich ihre Führung, wenn man deren Anführer ausschaltet, und beeinträchtigt dies wirklich langfristig ihre Möglichkeiten? Ich muss sagen, dass ich auch danach kaum einen Unterschied feststelle. Warum ist die 'Wilayat Sinai' immer noch in der Lage, fast täglich Sprengstoffanschläge zu verüben?" Während "Wilayat Sinai" im nördlichen Sinai immer noch aktiv ist, leiden auch andere Landsteile Ägyptens unter den Angriffen der Dschihadisten, die eng mit dem "Islamischen Staat" verbunden sind. Im ganzen Land gab es Anschläge, insbesondere auf Christen, und überall wurden Mitglieder solcher Gruppen verhaftet.Die ägyptische Regierung hat versucht zu zeigen, dass ihre Sinai-Strategie nicht allein aus Militäraktionen besteht. Am 8. November stellten die Streitkräfte ein Projekt vor, mit dem in der Wüste des Sinai hundert neue Häuser gebaut werden sollen. Allerdings hat die Armee bisher im Sinai deutlich mehr Häuser zerstört als neue gebaut. 2014 wurden tausende Häuser dem Erdboden gleich gemacht, um an der Grenze zu Gaza eine 79 Quadratkilometer große Sicherheitspufferzone zu schaffen, zu der auch die Stadt Rafah im Nordsinai gehört. "Ein selbstzerstörerischer Sicherheitsplan" Laut Human Rights Watch hat die Armee seit vergangenen Februar die Zerstörung von Häusern, Gewerbegebieten und Landwirtschaftsbetrieben im Nordsinai „enorm ausgeweitet“. „Wenn man die Häuser der Menschen abreißt, ist dies Teil desselben selbstzerstörerischen Sicherheitsplans, mit dem bereits zuvor Lebensmittelversorgung und Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden, um die Bewohner des Sinai zu gängeln“, meint Sarah Leah Whitson, Nahostdirektorin von Human Rights Watch.Dass das Jahr im Sinai so blutig war, hat auch Auswirkungen auf die westlichen Regierungen, die Ägypten mit großen Mengen an Waffen versorgen. Dies wird – insbesondere im Sinai – mit dem Krieg gegen den Terror gerechtfertigt. Seit die Trump-Regierung an die Macht kam, arbeiten insbesondere die USA enger mit der ägyptischen Regierung zusammen, berichtet Issandr al-Amrani, Direktor des Nordafrikaprojekts der International Crisis Group. Amerika hat die Militärhilfe für Ägypten wiederbelebt und die "Operation Bright Star" neu aufgelegt, eine große gemeinsame Militärübung der beiden Länder. "Was die Beziehungen zwischen westlichen Ländern und Ägypten angeht, wurde die Lage der Menschenrechte in Ägypten völlig außen vor gelassen", meint Al-Amrani gegenüber Qantara.de. "Der Wunsch nach regionaler Stabilität, der Kampf gegen den IS und – im Fall der Europäer – die Migration haben dazu geführt, dass die Frage nach den Menschenrechten gar nicht erst gestellt wurde." Beobachter, die die Vorgehensweise der ägyptischen Regierung im Sinai kritisch sehen, sagen, die jüngste Militäraktion laufe darauf hinaus, dass die militärischen Eingriffe dort verdoppelt wurden – eine Strategie, die bereits früher zum Scheitern verurteilt gewesen sei und viele Menschenleben gekostet habe. "Warum also soll diese Strategie der rohen Gewalt diesmal funktionieren, wenn sie bereits wiederholt gescheitert ist?", fragt Mohannad Sabry, Sinai-Experte und Verfasser des Buches "Sinai: Egypt's Linchpin, Gaza's Lifeline, Israel's Nightmare", in dem es auch um den Konflikt zwischen Staatsmacht und militanten Islamisten auf dem Sinai geht. "Wenn das ägyptische Militär seine konventionellen Aktionen verstärkt, dann ist das höchstens ein Eingeständnis dafür, dass es in den letzten fünf Jahren nichts erreichen konnte", meint er. Sabry betont, dass die Behörden den Familien der Opfer des Angriffs auf die Rawdah-Moschee im vergangenen Jahr Pensionen versprochen haben. Diese wurden jedoch bis heute nicht ausgezahlt. "Das ist ein deutliches Bespiel dafür, wie das ägyptische Regime über Methoden denkt, die einmal nichts mit brutaler Gewalt zu tun haben." Tom Stevenson © Qantara.de 2018 Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Gescheiterte Revolutionäre

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Was verbindet den europäischen "Völkerfrühling" von 1848 mit der Arabellion von 2011? Beiden Aufständen war kein Erfolg bestimmt. Nach der Niederschlagung der Revolten legte sich ein langer eisiger Winter der Restauration über die Länder. Ein Essay des ägyptischen Historikers Khaled Fahmy | Die Bezeichnung "Arabischer Frühling" geht auf den Begriff "Völkerfrühling" ("Spring of Nations“) zurück, der von Historikern in manchen Ländern für die europäischen Revolutionen von 1848 benutzt wird. Trotz seines eurozentristischen Charakters könnte der Begriff aber nützlich sein, um einen Vergleich zwischen den Revolutionen Europas von 1848 und denen in der arabischen Welt zwischen 2011 und 2013 anzustellen. Weshalb? Erstens machten die revolutionären Bestrebungen im Europa des 19. Jahrhunderts genau wie im "Arabischen Frühling" nicht an Landesgrenzen halt. Nach und nach erfassten sie Frankreich, Deutschland und Ungarn und gaben schließlich den bereits zuvor in Italien ausgebrochenen Protesten neuen Auftrieb. Analog breitete sich der "Arabische Frühling" auf Ägypten, Syrien, Libyen, Bahrain und den Jemen aus, nachdem er in Tunesien seinen Anfang genommen hatte. Zweitens wurden die Revolutionen von 1848 von einem tiefen Gefühl der Notwendigkeit angetrieben, die herrschenden Verhältnisse umzuwälzen – auch wenn der Republikanismus, wie im Falle Frankreichs, nicht die einzige Alternative war, die zur Debatte stand. Zwar war die endgültige Gestalt der politischen Systeme, die durch die Revolutionen von 1848 herbeigeführt werden sollten, nicht zur Gänze klar. Die Stärkung demokratischer Institutionen und die Einbeziehung breiter Bevölkerungsschichten in den politischen Prozess stellten jedoch die grundsätzlichen Forderungen aller dar. Rentenökonomien gegen drohende Aufstände Meiner Ansicht nach entwickelten sich auch die arabischen Revolutionen aus der Erkenntnis heraus, dass die politische Herrschaftsstruktur in der arabischen Welt, deren Fundament kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gelegt wurde, sich selbst überlebt hat und überwunden werden muss. Denn die arabischen Regime scheiterten allesamt daran, wenigstens für ein Mindestmaß an Entwicklungserfolgen und Stabilität zu sorgen. Darüber hinaus waren sie nicht einmal in der Lage, ihr Territorium zu verteidigen.Selbst jene arabischen Staaten, die eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen für ihre Bürgerinnen und Bürger erreichten, taten dies nicht auf der Basis einer klugen und nachhaltigen Entwicklungspolitik. Ihren Erfolg verdankten sie einer Rentenökonomie, die auf dem Handel mit natürlichen Ressourcen wie Öl und Erdgas basiert. Begleitet wurde dieser Erfolg aber immer auch von einem grundsätzlichen Demokratiedefizit und mangelnden politischen Mitbestimmungsrechten für die Bevölkerung. Aber auch die Länder ohne Ölvorkommen verließen sich auf diese Art der Einnahmequelle und stützten ihre Wirtschaft auf die Überweisungen ihrer in den reichen Öl-Staaten arbeitenden Bevölkerung. Die so generierten Einnahmen trugen ohne Zweifel dazu bei, umfassendere Proteste nicht aufkommen zu lassen, was den Regimen eine Schonfrist einräumte, die sich in einigen Fällen über Jahrzehnte erstreckte. Das Erbe der Arabellion Mit anderen Worten hatten die Umbrüche in der arabischen Welt - genauso wie der "Völkerfrühling"– sowohl strukturelle als historische Ursachen. Er handelte sich daher nicht um das Ergebnis eines einzigen spezifischen Moments. Das Scheitern der Staaten in der arabischen Welt nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit ist ein komplexes und multifaktorielles Phänomen, das unter anderem in den arabischen Aufständen von 2011 - 2013 zum Ausdruck kam. Aber auch die Flucht von Millionen Menschen aus der arabischen Welt in Richtung Europa als Folge des islamistischen Terrors können als Ergebnis dieses Scheiterns begriffen werden.Drittens war die im Verlauf der Revolutionen zunehmende Bedeutung der sozialen Dimension sowohl im sogenannten "Arabischen Frühling" als auch im "Völkerfrühling" zu beobachten. Obwohl sich die arabischen und auch die europäischen Revolutionen anfangs auf die Forderung nach dem Sturz der jeweiligen Regime beschränkten und soziale Reformen keine Rolle spielten, kristallisierten sich die sozioökonomischen Probleme in beiden Fällen schnell als Fokus der revolutionären Bestrebungen heraus. In Europa fand die soziale Dimension ihren Ausdruck vor allem in den Forderungen nach der Verringerung der Arbeitszeit, der Erlaubnis, Gewerkschaften zu bilden und der Abschaffung der Leibeigenschaft im Falle Ungarns und Österreichs. Genauso stehen das im Verlauf der Revolutionen zunehmende Interesse an Frauenrechten, sozialer Gerechtigkeit, unabhängigen Gewerkschaften und der Kampf um akademische Freiheit stellvertretend für die Bedeutung der sozialen Frage im sogenannten "Arabischen Frühling". Das Scheitern der Revolution und die Restauration der alten Mächte Viertens verbindet den "Völkerfrühling" und den sogenannten "Arabischen Frühling" auch, dass sich die romantischen Vorstellungen, die ihrer Benennung zugrunde lagen, sehr bald als solche entpuppen sollten. Beiden war kein Erfolg bestimmt und der "Völkerfrühling" verwandelte sich schnell in einen langen eisigen Winter der Restauration. Bereits kurz nach dem Ausbruch der europäischen Revolutionen im Februar 1848 gelang es den repressiven Monarchien, die Kontrolle zurückzuerlangen, nachdem sie erkannt hatten, dass die Revolutionäre weder in der Lage waren, dem Staatsapparat ernsthaft gefährlich zu werden, noch den Rückhalt der Armee genossen.Dank der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Krone und der Unterstützung, die sich die reaktionären Regime gegenseitig boten, war die Konterrevolution hingegen erfolgreich. Ein Paradebeispiel für diese Unterstützung lieferte der Zar von Russland, der eine 300.000 Mann starke Armee in Ungarn einmarschieren ließ, um die dortige Revolution niederzuschlagen. Analog dazu war die Konterrevolution im Falle des sogenannten "Arabischen Frühlings" zu großen Teilen vor allem deshalb erfolgreich, weil die Golfmonarchien die reaktionären Kräfte unterstützten, die durch die Revolutionen unter Druck geraten waren. Dass der Golfkooperationsrat im März 2011 Truppen nach Bahrain schickte, um gegen die dortige Revolution vorzugehen, macht diese Unterstützung deutlich. Auch in Ägypten wäre die Konterrevolution unter der Führung Abdel Fatah al-Sisis ohne die großzügige finanzielle Unterstützung aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten wohl kaum möglich gewesen. Eine unwiderrufliche historische Zäsur Fünftens und letztens ist eine weitere Parallele zwischen dem sogenannten "Arabischen Frühling" und dem "Völkerfrühling", dass beide eine Zäsur in der jeweiligen jüngeren Geschichte Europas beziehungsweise der arabischen Welt darstellen. Es stimmt zwar, dass aus dem "Völkerfrühling" ein langer kalter Winter wurde, und die reaktionären Regime sehr schnell den Boden zurückgewannen, den sie 1848 innerhalb weniger Monate verloren hatten. Richtig ist auch, dass es ihnen gelang, an den Arbeitern, Journalisten, Anwälten oder Gewerkschaftlern, die die verschiedenen Revolutionen anführten, ein Exempel zu statuieren. Trotzdem diktierten die Ziele der Revolutionen, die die europäischen Massen auf dem Land und in den Städten während des Jahres 1848 lautstark eingefordert hatten, weitestgehend den politischen Prozess in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der "Völkerfrühling" hatte zu fundamentalen Veränderungen in der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Landschaft der europäischen Staaten geführt.In ähnlicher Weise kann man feststellen, dass es den konterrevolutionären Kräften in den Ländern des "Arabischen Frühlings" zwar umfassend gelungen ist, die Kontrolle zurückzugewinnen. Dennoch sind die Fragen, die die Arabellion aufgeworfen hat, jetzt unwiederbringlich auf dem Tisch. Sie sind aus dem Bewusstsein entstanden, dass ein Wandel der politischen Strukturen in der arabischen Welt unabdingbar ist und dem ewigen Scheitern der Staaten ein Ende gesetzt werden muss. Noch nie zuvor wurden diese Fragen so vehement gestellt, nicht einmal in der Zeit nach der historischen Niederlage von 1967. Der Geist ist aus der Flasche Die Revolutionen des Arabischen Frühlings haben die arabische Welt mit Fragen konfrontiert, die sie vor existenzielle Herausforderungen stellen. Es geht zum Beispiel um das Verhältnis zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, oder die Schaffung von Verhältnissen, in denen das Volk tatsächlich als Souverän agieren kann. Es geht aber auch um die Situation der Frauen in den arabischen Gesellschaften und die Überwindung sämtlicher Formen von Diskriminierung, denen sie ausgesetzt sind. Es stellt sich zudem die Frage nach einer vernünftigen Wirtschaftspolitik, die die arabischen Gesellschaften aus der Abhängigkeit von Einnahmequellen wie Öl und Geldtransfers von Arbeitsmigranten aus dem Ausland befreit. Nicht zuletzt wurde auch die Frage nach der Rolle der Religion im öffentlichen Raum aufgeworfen. Die herrschenden Regime haben stets behauptet, auf alle diese Fragen eine Antwort zu haben. Mit dem Ausbruch der arabischen Revolutionen 2011 wurde allerdings klar, dass dies nicht mehr als leeres Gerede und Lügen waren. Aber auch das Versprechen der konterrevolutionären Kräfte, wieder für Stabilität und Sicherheit zu sorgen, ist lediglich eine Illusion. Allein die arabischen Revolutionäre haben ernsthafte Anstrengungen unternommen, die strukturelle Krise in ihren Gesellschaften zu überwinden. Die Regime beschränken sich hingegen in gewohnter Manier auf den Einsatz roher, exzessiver Gewalt und Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Feinde. Allerdings, ist der Geist ist aus der Flasche entwichen und trotz aller verzweifelten Versuche, wird es den arabischen Regimen wohl nicht gelingen, diesen wieder unter Verschluss zu bekommen. Khaled Fahmy © Qantara.de 2018 Aus dem Arabischen von Thomas Heyne

Handlanger der Despoten

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Die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi wirft ein Schlaglicht auf die schwierige Situation der Medien in den postrevolutionären arabischen Staaten. Es herrscht längst wieder die autoritäre Restauration. Von Loay Mudhoon | In den autoritär bis diktatorisch regierten arabischen Staaten waren staatlich gesteuerte Medien stets eine Mehrzweckwaffe: Als Sprachrohr der Regierungen informierten sie die regierten Massen im Sinne der Machthaber. Zugleich galt es, die Politik des jeweiligen Herrscherhauses zu rühmen und plausibel, patriotisch, ja alternativlos erscheinen zu lassen. Bis zum Ausbruch des Arabischen Frühlings 2011 waren diese Medien Instrument der Herrschaftssicherung, Teil des autoritären Systems. Die Medienfreiheit war durch "Informationsministerien" stark eingeschränkt.  Der historische Umbruch im Zuge der Arabellion setzte diesem Meinungsmonopol ein Ende und eröffnete neue Freiheiten: Viele unabhängige Medien entstanden bis 2013; Journalisten gewannen an Selbstbewusstsein, Soziale Medien spielten eine entscheidende Rolle bei der Organisation der größten Massenmobilisierung der jüngsten Geschichte der arabischen Völker. Die Medien organisierten und vernetzten sich in dieser Zeit des Aufbruchs und des grenzenlosen Optimismus. Vor allem junge Medienmacherinnen und -macher hatten endlich das Gefühl, sie könnten ihre Zukunft mitgestalten und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Eine neuartige Symbiose zwischen klassischen und neuen Medien bereicherte zudem die bis dahin übersichtliche Medienlandschaft – und trug maßgeblich zur Pluralisierung der Informationsangebote bei. Zur Überraschung vieler genossen fast alle Medien große Freiheiten, selbst in Ägypten unter dem islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi. Motor der Gegenrevolution Mit der Rückkehr konterrevolutionärer Kräfte an die Schalthebel der Macht sind die neu gewonnenen Freiheiten massiv unter Druck geraten: In Ägypten hat beispielweise der "Tiefe Staat", bestehend aus Geheimdienst und Oligarchie, zunächst die einflussreichen Massenmedien unter seine Kontrolle gebracht. Finanzstarke Investoren aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten kauften populäre Webseiten, welche die Muslimbrüder als übermächtige, dunkle Gefahr für die Nation aufbauten, um die Entmachtung des einzigen demokratisch gewählten Präsidenten in der Geschichte des Landes durch die Militärs zu legitimieren.Nach der Machtenthebung Mursis 2013 hat sich die Situation dramatisch verschlechtert. Journalisten wurden von den Behörden gezielt eingeschüchtert oder bedroht. Nach dem Motto "gleichschalten oder abschalten" brachten sie fast alle Medien sukzessive auf Linie. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurden mehr als 500 Webseiten gesperrt. In dieser Phase der autoritären Restauration haben die neuen alten Machteliten die Massenmedien zunehmend als Propagandamaschinen instrumentalisiert, um die alten Verhältnisse vor dem Arabischen Frühling wiederherzustellen. Vernetzung antidemokratischer Medien So wurden Demokratie-Aktivisten und zivilgesellschaftliche Akteure durch staatlich forcierte Medienkampagnen gezielt als vom Ausland gesteuerte Vaterlandsverräter diffamiert. Ein Novum ist die Vernetzung antidemokratischer Medien in Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Diese Netze versuchen, durch Falschinformationen und teils plumpe Lügen die Revolten des Arabischen Frühlings als "westliche Verschwörung gegen arabische Staaten" darzustellen und "die Islamisten", mit denen diese Regime jahrzehntelang zusammenarbeiteten, als alleinige Ursache der epochalen Krise in der Region erscheinen zu lassen.Doch es geht um weit mehr als die Verteufelung oppositioneller Kräfte. Es geht darum, den gesellschaftlichen Diskurs im gesamten arabischen Raum so zu beeinflussen, dass die Idee der Demokratie und der politischen Teilhabe an sich diskreditiert wird. Selbst die panarabischen Elitenmedien sind inzwischen auf Linie gebracht worden: Die in London erscheinenden Zeitungen Al-Hayat, Asharq al-Awsat und Al-Quds al-Arabi sind zu Sprachrohren ihrer Inhaber mutiert. Die Diffamierung der Demokratie ist zum täglichen Mantra geworden. Hysterische Dimension der Verfolgung Staatlich kontrollierte Medien sorgen für eine regimefreundliche PR-Fassade. Und in der "Mediensupermacht" Saudi-Arabien beispielsweise dienen sie als Schutzwall gegen kritische Berichterstattung, nicht nur im eigenen Land, auch im regionalen Umfeld. In Krisenzeiten werden sie eingesetzt, um politische Rechnungen mit regionalen Rivalen zu begleichen, wie die bizarre Fehde zwischen Saudi-Arabien und Qatar zeigt. Fazit: In der aktuellen arabischen Welt gibt es keine zugleich unabhängigen und einflussreichen Medien. Spätestens seit der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi wissen wir: Die Verfolgung von kritischen Journalisten hat eine hysterische Dimension angenommen.  In seiner letzten Kolumne für die Washington Post forderte Khashoggi "eine moderne Version der alten transnationalen Medien für die arabische Welt, um Bürger über globale Ereignisse zu informieren". Noch wichtiger sei es, "arabischen Stimmen eine Plattform zu geben", so Khashoggi. Diese Forderungen in die Tat umzusetzen ist das Gebot der Stunde. Loay Mudhoon © Qantara.de 2019

Die sieben Sünden der ägyptischen Opposition

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Am 25. Januar 2011 gingen Millionen Ägypter auf die Straße und forderten "Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit". Acht Jahre später ist die demokratische Opposition gespalten, weil sie es nicht vermocht hat, eine Alternative zum Militärstaat anzubieten, meint der Politikwissenschaftler Taqadum Al-Khatib. | Wenn ich hier von Opposition spreche, meine ich sie in ihrer Gesamtheit von ganz rechts bis ganz links, oder zumindest die, die eine Veränderung über friedlichen Kampf anstrebt, ohne in die Falle der Ausgrenzung und der Spaltung auf ideologischer Grundlage zu tappen. Seit dem Beginn des Aufstandes im Januar 2011 bis heute hat diese Opposition viele Fehler gemacht. All diese Fehler hatten ihre Gründe und Hintergründe, doch diese im Einzelnen zu erklären ist hier nicht der Raum. Die erste Sünde: Die ersten Fehler beging die Opposition bereits in den ersten Tagen des revolutionären Aufstandes im Januar 2011. Unmittelbar nach dem Rücktritt Mubaraks und der Hinnahme des sanften Putsches gegen ihn rief die Opposition zur Räumung des Tahrir-Platzes in Kairo auf, ohne dass es eine Einigung hinsichtlich der nächsten Schritte gegeben hätte und ohne ein Bewusstsein dafür, dass die Tahrir-Besetzung ein echtes Druckmittel zur Verwirklichung der Ziele des Aufstandes war. Die leichtfertige Aufgabe des Platzes war so etwas wie die erste Kugel, die den Aufstand traf. Wären die Menschen auch nur eine Woche lang nach Mubaraks Abtritt geblieben, wäre die Situation eine ganz andere gewesen. Der Militärrat hätte sich den Millionen, die ihn dazu gezwungen hatten, Mubarak zum Machtverzicht zu bewegen, auch im Weiteren nicht entgegenstellen können. Damals war ich für die politische Kommunikation in der oppositionellen "Nationalen Vereinigung für Veränderung" zuständig, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wer damals besonders laut danach rief, den Platz zu räumen. Allen voran waren es die Muslimbrüder, aber es schlossen sich ihnen auch andere Parteien an, die historisch mit dem tiefen Staat verbunden waren (ich möchte an dieser Stelle keine davon hervorheben). Sie plädierten für einen politischen Prozess, ohne zunächst auf eine Einigung hinsichtlich des weiteren Vorgehens zu bestehen. Im Grunde zeigte sich hier der typische diesen Parteien eigene politische Opportunismus, der darauf abzielte, möglichst schnell das Erbe des Mubarak-Regimes anzutreten, dessen Nachlass untereinander aufzuteilen und so einen Politkrieg aller gegen alle loszutreten. Diese Spaltung besteht bis heute fort, und dem Regime ist es ein Leichtes, die verschiedenen Seiten gegeneinander auszuspielen und dadurch die eigene Macht abzusichern. Die zweite Sünde: Es wurde kein Projekt für die Zeit nach Mubarak formuliert, das allen das Gefühl vermittelt hätte, daran teilhaben zu können. Die "Nationale Vereinigung für Veränderung" versuchte, die sieben Hauptforderungen des revolutionären Aufstands vom Januar 2011 festzuschreiben, aber aufgrund der Umstände fand sie sich in einem Vakuum wieder, in dem niemand eine Vision davon hatte, wie es nach Mubarak weitergehen sollte.Dieses Fehlen eines politischen Projekts führte dazu, dass sich die politischen Kräfte um ihre jeweils eigene Ideologie scharten und weder Demokratie noch Freiheit in den Mittelpunkt stellten. Die Linken hingen ihrer linken Ideologie an, die Islamisten sahen die Lösung in einer islamischen Ideologie und so weiter. Vor diesem Hintergrund verblasste die grundlegende Forderung nach Freiheit und Demokratie als Fundament von Diskurs und Politik. Und dies führte zur dritten Sünde: Das Ausbleiben eines Diskurses, der darauf gerichtet war, die Massen zu überzeugen. Wo ein Projekt fehlt, fehlt auch eine Struktur, aus der ein Diskurs erwächst. Zudem dominierte statt Aktion nur politische Reaktion und somit ein Diskurs, der lediglich auf den Moment und das augenblickliche Geschehen gerichtet war. Die Opposition reagierte nur noch auf eine immer stärker werdende Repression durch das Regime. Die vierte Sünde: Die so beschriebene Opposition war nicht in der Lage, sich selbst und ihre Vorgehensweise weiterzuentwickeln und blieb dem Prinzip des oppositionellen Protestes verhaftet. Sie konnte sich aus dieser Stagnation nicht befreien. Die Muslimbrüder beispielsweise haben bis heute nicht begriffen, dass ihr derzeitiger Zustand eine Last für den Staat wie für die Gesellschaft darstellt und dass sie sich in eine politische Partei verwandeln müssten, die für eine Vision und ein Ziel steht und die mit ihrer Vergangenheit bricht. Die fünfte Sünde bestand darin, dass einzelne Gruppen sich mit dem tiefen Staat verbündeten, um politische Gegner zu beseitigen. Die "Rettungsfront" spielte diese Rolle mit Bravour. Ihr einziges politisches Projekt bestand im Sturz der Muslimbrüder.Vielleicht lag dies auch daran, dass die Front in ihren Reihen auch ehemalige Anhänger des Mubarak-Regimes und Verbündete des tiefen Staates hatte. Es gipfelte in der Aufforderung an die Armee, gegen das junge demokratische Experiment zu putschen. Die Anhänger der Muslimbrüder irren, wenn sie bis heute nicht zwischen den friedlichen Demonstrationen gegen sie und dem Putsch unterscheiden, den das Militär am 3. Juli 2013 gegen alle durchführte. Es gab damals Demonstrationen für vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Wie auch immer man dazu gestanden haben mag, das Militär riss die gesamte Macht an sich, ohne Wahlen in Aussicht zu stellen, und setzte einen gewählten Präsidenten ab. Die sechste Sünde: Die Zustimmung zur gewaltsamen Räumung des von den Muslimbrüdern besetzten Rabia-Platzes. Fast niemand von der Opposition stellte sich dagegen oder leistete auch nur minimalen Widerstand. Stattdessen übernahm man die Sprachregelung: "Die Toten wurden von denen ermordet, die sie dorthin geschickt haben" und übernahm den Diskurs des neuen Regimes in Gänze. Dazu gehörte, die Platzbesetzung habe den Staat in seiner Existenz gefährdet, was Unsinn war, denn wären die Muslimbrüder wirklich so stark gewesen, hätte sie niemand entmachten können. Aber der Zweck dieser Propaganda war nur die Legitimierung eines Massenmords. Und die Übertragung der Räumung des Rabia-Platzes live vor aller Augen und Ohren war der Auftakt dazu, dass das Regime ab nun jeden töten würde, der sich einem anderen Lager zuordnet, also die gesamte friedliche Opposition. Die Räumung von Rabia wird der Gesellschaft und dem Staat in Ägypten noch lange nachhängen. Seitdem hat sich spürbar Gewalt angestaut - und diese Gewalt greift in der ägyptischen Gesellschaft immer weiter um sich.Die siebente Sünde bestand in einer bis heute andauernden Unfähigkeit, Fehler einzugestehen und zu einer nationalen Versöhnung aufzurufen, die alle politischen und ideologischen Kräfte einschließt. Manche über die letzten Jahre oft missbrauchten Begriffe müssten neu definiert werden. Politische Solidarität zum Beispiel sollte auf dem Grundsatz der Gleichheit aller und dem Prinzip von Freiheit und Gerechtigkeit für alle beruhen, statt sich an ideologischer und politischer Zugehörigkeit zu orientieren. Während der vergangenen sechs Jahre hat die Opposition sich selbst ins Abseits manövriert und ihre inneren Spaltungen vertieft. So wird sie nie in der Lage sein, ihre innere Krise zu überwinden und sich breiteren Themen zuzuwenden, die eine Perspektive für einen Aufbruch bieten könnten. Aber die Opposition scheint sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass eine neue Phase eingeleitet werden muss, die auf einer nationalen Versöhnung beruht. Versöhnung würde heißen, in einen Dialog mit unterschiedlichen Seiten zu kommen, denn ohne einen solchen konstruktiven Dialog führt kein Weg zu einer gemeinsamen Vision auf der Grundlage von Freiheit und Demokratie und wird die Opposition sich nicht als Alternative zu einem Regime anbieten können, das sich alles erlaubt, nur um seine Macht zu behalten. Taqadum Al-Khatib © Qantara.de 2019 Der ägyptische Publizist und Politikwissenschaftler ist Doktorand an der Princeton University und der Freien Universität Berlin. Er war zuständig für politische Kommunikation in der "Nationalen Vereinigung für Veränderung". Übersetzung aus dem Arabischen von Günther Orth

Nasser ist überall

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Hagiographie am Nil: Der Kult um Gamal Abdel Nasser nimmt immer weiter zu, auch deshalb, weil er Ägyptens amtierendem Präsidenten nützt. Von Joseph Croitoru | Der ägyptische Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi sieht sich bekanntlich als großen Erneuerer, nicht wenigen im Land gilt er gar als Heilsbringer. Dieses Image, das auch Resultat der immer strengeren Kontrolle der Medien durch die Regierung ist, wird noch potenziert durch den in Ägypten häufig bemühten Vergleich zwischen al-Sisi und dem legendären ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser: Wie der berühmte Anführer der panarabischen Bewegung strebe auch sein heutiger Amtsnachfolger eine umfassende Modernisierung des Landes an. Und wie seinerzeit Nasser zeige sich auch der jetzige Präsident kompromisslos, wenn es darum gehe, die islamistischen Muslimbrüder auszuschalten – was Nasser trotz schwerer Repressionen nicht gelang. Der Konsolidierung des Personenkults um den amtierenden ägyptischen Präsidenten al-Sisi verdankt es sich wohl, dass allmählich auch sein Vorbild Gegenstand staatlicher Glorifizierung werden durfte. Schon 2016 wurde das erste ägyptische Museum zum Gedenken an Nasser in dessen ehemaliger Residenz im Osten Kairos eröffnet – von al-Sisi höchstpersönlich. Der offizielle Name des Hauses lautet "Museum des Führers Gamal Abdel Nasser", was wieder eine Assoziation zu al-Sisi hervorruft, der von seinen Bewunderern gerne als "Führer" (Arabisch: "za'im") bezeichnet wird. Die Schau im Museum, die auch die Wohn- und Arbeitsräume des berühmten Staatsmannes mit einschließt, stützt das gängige Bild vom charismatischen Politiker und zeigt Nasser mit Vorliebe als entschlossenen Revolutionär und leidenschaftlichen Redner, der die Massen zu begeistern versteht. Al-Sisi in den Fußstapfen Nassers Hier darf aber auch eines jener Fotos nicht fehlen, auf denen sich der arabische Sozialist als Mekka-Pilger inszenierte – al-Sisi, der sich als dessen politischen wie geistigen Erben sieht, ist für seine Frömmigkeit bekannt. In der zentralen Ausstellungshalle werden Fotografien präsentiert, die die verschiedenen Etappen vor allem der militärischen und politischen Karriere Nassers nachzeichnen, sowie etliche persönliche Gegenstände, offizielle Geschenke, Büsten und Staatsakten.In einem weiteren, der "Geschichte des Volkes" gewidmeten Ausstellungsraum wird hauptsächlich mit Filmausschnitten an Nassers Wirken als ägyptischer Politiker und Anführer der panarabischen Revolution erinnert. Für Nassers ehemalige Residenz begann man sich überhaupt erst unter Präsident al-Sisi zu interessieren, obgleich sie von Nassers Söhnen schon nach dem Tod ihrer Mutter 1992 an den Staat übergeben worden war. Seine Nachkommen spielen heute bei der öffentlichen Ehrung Gamal Abdel Nassers eine zentrale Rolle, pflegen sie doch zugleich auch den Kult um al-Sisi, indem sie ihn zum einzig wahren Nachfolger Nassers erklären. Im Gegenzug werden sie ihrerseits vom Staat hofiert. An Nassers Geburts- und Todestag (15. Januar und 28. September), die mittlerweile für die ägyptische Presse und Öffentlichkeit zu Pflichtterminen geworden sind, werden sie als Ehrengäste zu Gedenkzeremonien eingeladen, die im Nasser-Museum wie auch an seiner Grabstätte in der nach ihm benannten Moschee in Kairo begangen werden. Nasser-Kult allerorten Die Zahl solcher Staatsrituale wächst auch deshalb kontinuierlich, weil immer mehr Kultureinrichtungen hinzukommen, die zur Verbreitung des Kults um Nasser beitragen. So wurden 2018 – man feierte seinen hundertsten Geburtstag – zwei weitere nach ihm benannte Häuser eröffnet: ein kleines Museum mit Bibliothek in Nassers Geburtshaus in Alexandria und ein Kulturhaus in dem nahe der mittelägyptischen Stadt Asyut gelegenen Dorf Bani Mar. Letzteres hat mit dem ehemaligen Präsidenten freilich nur indirekt etwas zu tun: Es ist der Geburtsort seines Vaters. So liegt es nahe, wenn nun auch Nassers Enkel Gamal Khaled Abdel Nasser die Aufmerksamkeit der ägyptischen Öffentlichkeit genießt. Er brachte anlässlich des Todestages seines Großvaters im vergangenen September einen Sammelband heraus, in dem die wichtigsten Schriften des berühmten ägyptischen Präsidenten versammelt sind, darunter seine Memoiren aus dem israelisch-arabischen Krieg von 1948 und sein Revolutionsmanifest von 1954. Wiederentdeckung des verhinderten Literaten Mit dem Buch, zu dem Gamal Khaled die Einleitung geschrieben hat und mit dem er seit Monaten in Ägypten und auch in anderen arabischen Ländern auf Lesereise geht, reiht sich der Enkelsohn in den Reigen der ägyptischen Publizisten und Journalisten ein, die Nasser-Hagiographie betreiben. Dazu gehört auch seine Wiederentdeckung als verhinderter Literat. So wurde unlängst die einst von dem Oberschüler Gamal angefangene Erzählung "Auf dem Weg zur Freiheit" ausgegraben, in der Nasser die Schlacht von Raschid 1807 thematisierte, bei der die Ägypter eine britische Invasion abzuwehren vermochten. Für ihre Fertigstellung hatte der spätere Präsident zwar keine Zeit mehr gefunden. Seine Hofpropagandisten jedoch, die nach dem Suezkrieg 1956 eifrig an der Inszenierung des Präsidenten als Sieger über Israel und dessen britische und französische Verbündete arbeiteten, griffen gern auf Nassers Fragment gebliebene Geschichte zurück.1958 schrieb das ägyptische Kulturministerium einen Wettbewerb aus, der Schriftsteller dazu einlud, Nassers Erzählung zu vollenden. Drei regimenahe Autoren wurden für ihre eingereichten Werke ausgezeichnet. Anfang der siebziger Jahre wurde eines davon nach Nassers Tod sogar zur Pflichtlektüre an den Schulen. Niedergang des Panarabismus und Aufstieg des Islamismus Dass heute in den Chor der Nasser-Verehrer auch prominente Aussteiger aus der islamistischen Muslimbruderschaft einstimmen und die Muslimbrüder dafür geißeln, nach wie vor am Feindbild Nasser festzuhalten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn gerade Nassers Großmachtphantasien waren bekanntlich mitursächlich dafür, dass Ägypten im Krieg von 1967 gegen Israel eine verheerende Niederlage erlitt, die den Niedergang des Panarabismus einläutete – und den Aufstieg des Islamismus begünstigte. Solche Zusammenhänge werden im Zuge des heutigen Nasser-Kults ausgeblendet, was auch dazu führt, dass in Ägypten jedes Rütteln an seinem Mythos reflexartig den Muslimbrüdern zugeschrieben wird. So etwa der die Ägypter derzeit aufwühlende Beschluss der Regierung Mauretaniens, die "Nasser-Allee" in der Hauptstadt Nouakchott in "Straße der nationalen Einheit" umzubenennen. Die noch davor bekanntgegebene Umbenennung einer Nasser-Schule im libyschen Tripolis nach einer dort agierenden islamistischen Miliz hat schon in den vergangenen Wochen zu so heftigen Protesten in den arabischen Medien geführt, dass sich der libysche Erziehungsminister schließlich gezwungen sah, die Entscheidung zurückzunehmen. Joseph Croitoru © Qantara.de 2019

Generalissimo Sisi

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Ägypten steht kurz vor einer tiefgreifenden Verfassungsänderung. Diese wird dem Militär mehr Kontrolle über den Staat verleihen und diesen dazu befähigen, künftig auch gegen gewählte Regierungen vorzugehen sowie politische Gegner zu verfolgen. Von Maged Mandour | Am 3. Februar 2019 beantragten die ägyptischen Parlamentarier der Tahya Misr – einer Koalition, die Präsident Abdel Fattah al-Sisi unterstützt und etwa ein Fünftel des Parlaments ausmacht – die ägyptische Verfassung zu ändern. Zwei Tage später wurden die vorgeschlagenen Änderungen vom Generalkomitee akzeptiert – ein vorläufiger Schritt, der den Weg für eine parlamentarische Debatte öffnet. Dass die insgesamt zwölf Änderungen und neuen Artikel tatsächlich verabschiedet werden, gilt als sehr wahrscheinlich, da für eine Verfassungsänderung nur eine einfache Mehrheit nötig ist. Nach Informationen Ali Abdul Aals, des Sprechers des ägyptischen Repräsentantenhauses, werden sie bereits von zwei Dritteln des Parlaments unterstützt. Wie zu erwarten war, soll auch Artikel 140 der Verfassung in dem Sinne angepasst werden, dass die Amtszeit des Präsidenten nicht mehr vier, sondern künftig sechs Jahre betragen soll. Weiterhin ist eine neue Klausel geplant, die es dem bestehenden Präsidenten ermöglicht, für zwei zusätzliche Amtszeiten zu kandidieren. Treten die Änderungen in Kraft, könnte Präsident Sissi demnach bis 2034 an der Macht bleiben. Alle Macht dem Obersten Militärrat Neben diesen geplanten Verfassungsänderungen sind noch weitere Bestimmungen vorgesehen, die die Eingriffe des Militärs in die Politik künftig legalisieren sollen (Artikel 200), die Macht der Militärgerichte ausweiten (Artikel 204) und den Einfluss der Exekutive auf das Justizwesen vergrößern (Artikel 185, 190 und 193). So wird die Position des Militärs als oberster Hüter des Staates zementiert. Der Armee wird ebenso das Recht zuteil, selbst gegen vom Volk gewählte Regierungen vorzugehen und seine politischen Gegner gerichtlich zu verfolgen.Durch die Änderung des Artikels 200, der die verfassungsrechtliche Rolle des Militärs regelt, werden die bisherigen Pflichten des Militärs um "den Schutz der Verfassung, der Demokratie, des Staates und seiner säkularen Ordnung, sowie der persönlichen Freiheiten" erweitert. Dies gibt dem Militär das von der Verfassung garantierte Recht, einen Putsch durchzuführen und die direkte Militärherrschaft zu verhängen – insbesondere dann, wenn ein möglicher Wahlsieg von Islamisten die "säkulare" Ordnung des Staates bedrohen sollte. Die geplante Verfassungsänderung ermöglicht es dem Militär sogar, Wahlergebnisse willkürlich außer Kraft zu setzen – unter dem Vorwand, damit die Verfassung, die Demokratie oder den Staat zu schützen. Ebenso streicht der Änderungsantrag zu Artikel 204 das Wort "direkt" aus der bisherigen Formulierung "direkter Angriff", wenn es darum geht, zu beschreiben, welche Vergehen gegen das Militär in die Zuständigkeit seiner Gerichte fallen. Dies erhöht die Macht des Militärs, Zivilisten zu verfolgen. Und auch der Artikels 234 soll geändert werden. Dieser sah bislang vor, dass die Ernennung des Verteidigungsministers nur für die ersten beiden Amtszeiten des Präsidenten nach der Einführung der Verfassung von der Zustimmung des Obersten Militärrats abhängt. Zukünftig setzt seine Ernennung die Zustimmung des Militärrats in jedem Fall voraus. Damit wird sichergestellt, dass das Militär ein unabhängiger Akteur bleibt, der ohne zivile Kontrolle seine eigenen Angelegenheiten regeln kann. Demontage der Justiz Damit wird nicht nur die Macht des Militärs ausgebaut, sondern auch die Unabhängigkeit der Justiz (durch die Änderung der Artikel 185, 193 und 190) massiv behindert. So werden alle Wege blockiert, das Regime vor Gericht zu belangen, indem dafür gesorgt wird, dass der Vorsitz der verschiedenen juristischen Institutionen nur von überprüften Kandidaten übernommen werden kann. Außerdem wird deren finanzielle Unabhängigkeit abgeschafft und die Zuständigkeit des Staatsrats eingeschränkt. Aus Artikels 185, der es der Justiz bislang ermöglichte, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, wird der Verweis auf das "unabhängige Budget" der einzelnen Körperschaften entfernt. Darüber hinaus wird ein Absatz hinzugefügt, der dem Präsidenten die Befugnis erteilt, die die Leiter der Justizbehörden aus einem Pool von sieben Kandidaten auszuwählen – auf der Grundlage ihres Dienstalters und für einen Zeitraum von vier Jahren. Es ermöglicht auch die Einrichtung eines Hohen Justizrats unter der Leitung des Präsidenten, der die Ernennungen, Entsendungen und Beförderungen innerhalb der Justiz überwacht. Die beratende Funktion des Präsidenten in diesem Rat würde es ihm ermöglichen, als Schiedsrichter bei Gesetzentwürfen zur Regelung von Rechtsangelegenheiten zu agieren. Artikel 193, der sich auf das Oberste Verfassungsgericht bezieht, gibt der Generalversammlung dieses Gerichts momentan das Recht, den Gerichtsvorsitzenden und seine Stellvertreter auszuwählen. Die vorgeschlagene Änderung des Artikels wird dem Präsidenten stattdessen die Befugnis geben, den Leiter des Gerichts unter den fünf ältesten Vizepräsidenten des Gerichts auszuwählen. In der vorgeschlagenen Form des Artikels hat der Präsident weiterhin die Befugnis, diese Vizepräsidenten aus zwei Kandidaten auszuwählen – von denen einer vom Vorsitzenden des Gerichts und der andere von der gerichtlichen Generalversammlung nominiert werden. Kandidaten nach Wunsch des Präsidenten Außerdem soll der Präsident die Möglichkeit bekommen, aus Kandidaten, die vom Präsidenten des Obersten Verfassungsgerichts ausgewählt wurden, den Vorsitzenden und die Mitglieder des gerichtlichen Kommissionsausschusses zu ernennen – eines Expertengremiums, das unverbindliche juristische Meinungen beisteuert. Dass die Unabhängigkeit der ägyptischen Justiz durch Gerichtsbeschlüsse sowie rechtliche Entscheidungen zugunsten des Militärs und der Exekutive untergraben wird, ist nicht neu. Nun aber liefern diese Änderungen eine verfassungsrechtliche Basis für die Einschränkung der juristischen Autonomie, die kaum noch rückgängig gemacht werden kann. Die Änderungen betreffen auch Artikel 190, der die Aufgaben des Staatsrates, das System der Gerichte zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen den staatlichen Verwaltungsorganen sowie zwischen dem Staat und der Bevölkerung festlegt. Mit den vorgeschlagenen Änderungen wird jegliche juristische Kontrolle von Regierungsverträgen verhindert, was die Macht der Regierung vergrößert und zusätzlicher Korruption Tür und Tor öffnet. Auf dem Weg zur Militärdiktatur? In Anbetracht der Tatsache, dass das Militär seinen wirtschaftlichen Fußabdruck mit Hilfe von Regierungsverträgen stark vergrößert hat, wird es von der Abschaffung dieser Kontrollmöglichkeit zusätzlich profitieren. Und während der Staatsrat momentan sämtliche Gesetze dahingehend überprüft, ob sie im Einklang mit der Verfassung stehen, soll der Rat nach der Änderung nur noch solche Gesetzesvorlagen prüfen, die ihm ausdrücklich zugewiesen werden. Dies reduziert die Fähigkeit des Staatsrates, die Exekutive anzufechten, erheblich. Besonders bedeutsam ist dies insofern, da der Rat bereits seit einiger Zeit in eine langwierige juristische Auseinandersetzung mit dem Regime verwickelt ist, bei der es um die umstrittene Übergabe der Inseln Tiran und Sanafir an Saudi-Arabien geht. Dass seine Macht nun derart beschnitten wird, kann daher als "Bestrafung" betrachtet werden – und als Versuch, weitere langwierige rechtliche Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der Justiz zu verhindern. Werden die geplanten Verfassungsänderungen wie erwartet durchgesetzt, könnte sich das politische System Ägyptens daher erheblich verändern. Denn damit wäre wohl auch der letzte Anschein einer Gewaltenteilung hinfällig – ebenso wie die Unterordnung des Militärs unter die gewählte Regierung. Damit ist Ägypten auf dem Weg zur Militärdiktatur – nicht nur faktisch, sondern auch verfassungsrechtlich. Maged Mandour © Carnegie Endowment for International Peace 2019 Aus dem Englischen von Harald Eckhoff Der Autor ist ist politischer Analyst und schreibt für Open Democracy die Kolumne "Chronicles of the Arab Revolt“ (Chroniken der arabischen Revolte).

Die Wiedergeburt des Tahrir-Platzes

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Der Geist der Freiheit, den damals der Tahrir-Platz entfesselte, sollte im Zuge der autoritären Restauration in vielen arabischen Staaten endgültig erstickt werden. Weshalb das jedoch ein Ding der Unmöglichkeit ist, erklärt der libanesische Schriftsteller Elias Khoury in seinem Essay. | Wer in diesen Tagen Ägypten besucht, wird ihn nicht mehr finden, den Ort, der zu einem Wahrzeichen für den Wandel in der arabischen Welt zu Beginn des neuen Jahrtausends geworden ist. Die Revolution, deren Funke von Tunesien aus auf die Städte Ägyptens, Libyens, Syriens, Bahrains und des Jemen übersprang, machte aus dem Tahrir-Platz ein Symbol für den Aufstand der Menschen in der arabischen Welt gegen ihre autoritären Regime. Es war ein Ort, an dem die Freiheit erprobt wurde, während die Ägypterinnen und Ägypter in den umliegenden Seitenstraßen Unterdrückung und Diktatur die Stirn boten. Doch was ist aus ihm geworden? Fiel er, genauso wie die jungen Revolutionäre, den umfassenden Repressalien zum Opfer, die durch die nahezu unverhohlene Allianz des Militärrats und der Muslimbrüder entfacht wurden? Das Bündnis, eingegangen mit dem Ziel, die repressiven Kräfte zu konzentrieren, endete jedoch letztlich mit dem Putsch gegen die Muslimbrüder, der dem Militär erneut die Herrschaft über das Land sicherte. Der Schein eines rechtsstaatlichen Anstrichs In seinem einer Anklage gleichenden Roman "Republik als ob" schildert Alaa al-Aswani dieses blutige Kapitel der Geschichte des Tahrir-Platzes in einer Mischung aus Realität und Fiktion. Als Reaktion auf sein Werk wurde nicht nur umgehend vor einem Militärgericht Anklage gegen den Schriftsteller erhoben, der Roman, der bei "Dar Al Adab" in Beirut publiziert wurde, durfte gar nicht erst in Ägypten erscheinen. Erst vor wenigen Tagen beschuldigte die ägyptische Schauspielergewerkschaft die beiden Schauspieler Amr Waked und Khaled Abol Naga des Hochverrats und entzog ihnen ihre Mitgliedschaft. Der Grund: Sie hatten während einer Konferenz in Washington, an der auch einige Mitglieder des amerikanischen Kongresses teilnahmen, die Verfassungsänderungen in Ägypten kritisiert. Die offizielle Erklärung über den Ausschluss, unterschrieben von Ashraf Zaki, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft, folgte umgehend und ohne vorherige Untersuchung. Ein Vorgehen, das exemplarisch für den Willen der Machthaber steht, sich rechtsstaatlicher Regeln zu entledigen und ein Schlaglicht auf die Zustände im heutigen Ägypten wirft.Es stellen sich in diesem Zusammenhang folgende Fragen: Auf was basiert hier der Vorwurf des Hochverrats? Und wie kann es sein, dass die Gewerkschaft, die ja eigentlich ihre Mitglieder verteidigen sollte, zum Richter wird und in Abwesenheit der Angeklagten ein Urteil fällt, ohne ihnen die Chance zu geben, sich zu äußern? Doch diese Fragen sind wohl rhetorischer Natur, denn der Rechtsstaat mitsamt seinen Gesetzen und Prinzipien, die den Bürgerinnen und Bürgern Schutz bieten, ist der Feind aller autoritären Regime. Ihn zu zerstören und der Gesellschaft dadurch die Sicherheiten wieder zu nehmen, die sie sich mühsam erkämpfen musste, ist ihr dringlichstes Anliegen. Und die Medien? Unfähigkeit und ein verblüffendes Talent, sich bei dem Versuch, die eigenen Widersacher in ein schlechtes Licht zu rücken, selbst lächerlich zu machen, sind die auffälligsten Merkmale der regimetreuen Medien in Ägypten. Der Gipfel der Absurdität ist erreicht, wenn ihre Talkshow-Moderatoren Anführungsstriche in die Luft malen, wenn sie von der Januar-Revolution sprechen und damit andeuten, dass es angeblich gar keine Revolution gegeben habe, sondern nur aufrührerische Tumulte, die die Armee im Rahmen ihres Krieges gegen den Terror unter Kontrolle bringen konnte! Repression um der Repression willen Mittlerweile scheint der zentrale Platz in Kairo in Lethargie versunken zu sein. Und nichts vermittelt mehr den Eindruck, als sei es jemals anders gewesen. Die Aktivisten, die ihn einst bevölkerten, sind heute entweder im Gefängnis, im Exil oder verstummt. Nur der Klang der Unterdrückung ist noch geblieben, denn der Rückschlag für die Bewegungen des Arabischen Frühlings führte geradewegs in eine neue Phase massiver Repression.Die Vorstellung, der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi könnte das Erbe Nassers fortführen, begann bereits mit der Abtretung der beiden Inseln Tiran und Sanafir an Saudi-Arabien zu bröckeln und erwies sich durch die militärische Kooperation mit Israel im Sinai endgültig als Luftschloss. Ägypten steht allerdings nicht völlig allein für diese Entwicklung, auch andere Staaten des Arabischen Frühlings, die heute von autoritären Machthabern beherrscht werden, kennen nur ein Thema: nämlich für Sicherheit zu sorgen! Sie haben keine Vision außer der Repression um der Repression willen. Und nur durch direkte Unterdrückung können sie ihre Herrschaft sichern – allen Versuchen zum Trotz, durch politische und soziale Reformen Legitimität zu erlangen. Ein solches Schicksal erleiden derzeit nicht nur Syrien und das auseinanderfallende Libyen, sondern auch andere Staaten in der Region. Das beste Beispiel für das Unvermögen der autoritären Regime ist gegenwärtig in Algerien zu beobachten. Symbolik und Realität verschwimmen hier auf eigentümliche Weise: Präsident Bouteflika hatte sich nicht nur politisch in Schweigen gehüllt, er ist nunmehr gänzlich verstummt. Auch die mächtigen Generäle und die Finanzlobby in seinem Umfeld scheinen - angesichts der Tahrir-Plätze Algeriens - wie gelähmt und schweigen. Die Angst durchbrechenDie Frage, was aus dem Tahrir-Platz geworden ist, wird momentan im Maghreb beantwortet. Mittlerweile finden wir ihn in Algerien genauso wie in Khartum und dieses Phänomen könnte sich wohl auch andernorts entfalten. Das Geheimnis des Arabischen Frühlings liegt wohl nicht in dessen Siegen oder Niederlagen, sondern in dessen Fähigkeit, den Menschen die Furcht zu nehmen. Auch wenn das Gemetzel in Syrien den Regimen als warnendes Beispiel dient, um die Menschen abzuschrecken ändert es doch nichts daran, dass die Mauer der Angst längst durchbrochen ist. Es schien, als würde die Niederschlagung des Arabischen Frühlings den Verlust des gerade neu entdeckten Horizonts bedeuten. Als würde dieses Scheitern die Rückkehr der arabischen Welt unter das Joch autoritärer, ölfinanzierter Militärregime einläuten und sein Vermächtnis in den Mühlen des sunnitisch-schiitischen beziehungsweise des iranisch-saudischen Konflikts zerrieben werden. Doch diese Niederlage bedeutet offensichtlich weder das Ende der Geschichte, noch kann sie den Weg für eine bessere Zukunft aufhalten. Die arabische Welt ist zwar an einem Tiefpunkt angelangt. Doch noch tiefer zu sinken, dürfte unmöglich sein. Ewig anhalten kann die derzeitige Misere aber auch nicht.  Der Prozess gegen den ägyptischen Schriftsteller Alaa al-Aswani, der Vorwurf des Hochverrats gegen Waked und Abol Naga, die Festnahme der jugendlichen Aktivisten vom Tahrir-Platz und die vielen Formen der Vertreibung, die aus den Menschen in Syrien Flüchtlinge gemacht hat, sind Teil einer Episode, die die arabische Welt derzeit erleiden muss: Der Geist der Freiheit, den damals der Tahrir-Platz entfesselte, sollte endgültig erstickt werden. Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Der Geist der Freiheit benötigt allerdings einen tiefgreifenden gedanklichen Umbruch in der arabischen Welt. Es braucht neue Denkansätze, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings gegen die autoritären Regime ein moralisches, politisches und intellektuelles Projekt machen, das den Begriffen Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit wieder Bedeutung verleiht. Elias Khoury © Qantara.de 2019 Elias Khoury zählt zu den namhaftesten arabischen Intellektuellen der Gegenwart. Er war Mitherausgeber zahlreicher politischer Journale und für einige Zeit der künstlerische Leiter des Beiruter Theaters. Heute ist er leitender Literaturredakteur der Beiruter Zeitung "An-Nahar". Zu Khourys Werk zählen das auch auf Deutsch erschienene Buch "Der König der Fremdlinge" sowie "Bab Ashams", sein großer Roman über die Geschichte der Palästinenser, für den er 1998 den Palästina-Preis erhielt.

Das Freiluft-Gefängnis für Kritiker

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Die ägyptische Regierung hat Zehntausende Regimekritiker inhaftiert, oft aus fadenscheinigen Gründen. Und selbst entlassene politische Gefangene sind nicht wirklich frei. Ruth Michaelson berichtet über den Fall einer ägyptischen Aktivistin aus Kairo. | An einem Freitag kurz vor Sonnenaufgang sollte sich das Leben von Amal Fathy und ihrem Ehemann Mohamed Lotfy für immer verändern. Am 11. Mai vergangenen Jahres kümmerte Amal sich gerade um ihren kleinen Sohn, als Mohamed jemanden an der Tür klopfen hörte. Draußen stand ein Sicherheitsbeamter in Zivil mit einer Gruppe schwerbewaffneter maskierter Spezialeinsatzkräfte. Mohamed ließ sie herein und bat sie, sich zu setzen. "Der Zivilbeamte nahm sich einen Stuhl am Esstisch", erinnert sich Mohamed. "Er sagte zu mir: 'Sie werden schon wissen, warum wir hier sind.'" Mohamed Lotfy dokumentiert Menschenrechtsverletzungen für seine Organisation, die Egyptian Commission for Rights and Freedoms (ECRF). Doch es war Amal Fathy, die in Gefahr war - obgleich sie nichts anderes gemacht hatte, als in den sozialen Netzwerken ein Video hochzuladen, indem sie sich darüber beschwerte, in einer Bank sexuell belästigt worden zu sein. Das Video hatte sich blitzschnell verbreitet und regierungstreue lokale Medien begannen, gegen die politische Aktivistin und ehemalige Schauspielerin Amal zu hetzen. Dennoch, sagt ihr Mann, hätte er "nicht damit gerechnet, dass sie festgenommen wird". Die Beamten forderten das Ehepaar auf, sie zur Polizeiwache zu begleiten. Vor ihrem Wohnhaus wartete ein weiteres Dutzend maskierter und bewaffneter Spezialkräfte, die aussahen, als wollten sie Schwerkriminelle festnehmen. Willkür und drakonische Strafen Amal Fathy kam in Untersuchungshaft und wurde mit zwei Anklagen konfrontiert: Zum einen bezichtigte die ägyptische Staatssicherheit die Aktivistin "falsche Nachrichten" sowie ein "unanständiges Video" in "schmutziger Sprache" verbreitet zu haben. Zum anderen wurde ihr vorgeworfen, einer terroristischen Gruppe anzugehören, die die nationale Sicherheit untergrabe.Um welche terroristische Gruppierung es sich dabei angeblich handeln sollte und welche konkreten Beweise gegen Amal vorliegen sollten, erfuhren die beiden nicht. Sie erhielten auch keinerlei Akteneinsicht", berichtet Mohamed Lotfy. Amal Fathys Inhaftierung traf ihn und seine ganze Familie hart. "Fast drei Monate lang war ich nicht ich selbst", erinnert sich ihr Mohamed Lotfy. "Ich konnte nicht mal eine Stunde stillsitzen. Ich war hyperaktiv und nervös und musste mich die ganze Zeit davon ablenken, dass meine Frau in Haft war und dass ich nichts tun konnte." Wenn der gemeinsame Sohn, der damals drei Jahre alt war, fragte, wo seine Mutter sei, erklärte er dem Kind stets: im Krankenhaus. Im September 2018 legte die 34-Jährige Widerspruch gegen das Urteil ein und zahlte die ihr auferlegte Strafe und Kaution. Doch erst Ende Dezember wurde sie auf Bewährung entlassen. Nur drei Tage später wurde das Urteil gegen sie bestätigt. Die zweite Klage wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer Terrorgruppe ist jedoch nach wie vor anhängig. Die Angst ist daher groß, dass Amal womöglich wieder verhaftet werden könnte. Auch steht sie nach wie vor unter Hausarrest, die exakten Bestimmungen der Bewährungsstrafe sind unklar. Menschenrechte im Würgegriff Amals Leidensweg ist kein Einzelfall. Heute sind schätzungsweise 60.000 Personen in Ägypten aufgrund politischer Anklagen inhaftiert, so die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Gleichzeitig bestreiten Präsident Abdel Fattah al-Sisi und die Behörden regelmäßig, dass es in Ägypten politische Gefangene gibt.Auch eine Haftentlassung bedeutet nicht notwendigerweise Freiheit, vor allem in Fällen von Meinungsfreiheit. In diesem Jahr wurden sowohl der preisgekrönte Fotograf Mahmoud Abu Zeid, der sich Shawkan nennt, als auch der bekannte Aktivist Alaa Abdel-Fattah nach fünf Jahren im Gefängnis entlassen – doch auch sie müssen weitere fünf Jahre jede Nacht auf der Polizeiwache verbringen. In einem Bericht hatte Amnesty International dem Regime in Kairo vorgeworfen, es habe Ägypten in ein "Freiluftgefängnis für Kritiker" verwandelt. 2018 nahmen die ägyptischen Behörden mindestens 113 Personen unter fadenscheinigen Behauptungen fest, berichtet die Menschenrechtsorganisation, zum Beispiel wegen Satire oder Tweets, wegen der Unterstützung von Fußballvereinen, wegen des Anprangerns sexueller Belästigung, der Bearbeitung von Filmen und Interviews. In einigen Fällen hätten die Festgenommenen auch gar nichts von alledem getan. Dennoch wurden sie von Behörden der 'Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung' und der 'Verbreitung falscher Nachrichten'" bezichtigt, so die Menschenrechtsorganisation.Leben in permanenter Unsicherheit Das Leben außerhalb der Mauern des berüchtigten Qanater-Gefängnisses stellt eine besondere Form der Bestrafung für die Familie dar. Die Bedingungen für Amals Bewährung erforderten zunächst, dass sie jeden Samstagabend unter Hausarrest bleibt und sich bei einer Polizeiwache in der Nähe der Wohnung der Familie meldet. Die Polizeidirektion von Gizeh hob dann jedoch die Forderung auf, dass Amal unter Hausarrest bleiben sollte, und änderte ihre Bewährungsaufforderung auf jeweils zwei vierstündige Besuche bei der Polizeiwache pro Woche. "Doch die Polizeidirektion hat die für Amal zuständige Polizeistation nie über diese Änderung instruiert", berichtet Lotfy. Es sei schon kafkaesk: Sowohl Inhaftierte als auch ehemalige Gefangene verfingen sich gleichermaßen in einem Netz der Bürokratie. Die familiäre Situation sei daher überaus belastend. Amal hänge völlig in der Schwebe, beklagt Mohamed Lotfy. "Sie ist mit einer Klage konfrontiert, über die bislang noch immer nicht entschieden worden ist, aber jederzeit entschieden werden könnte. Und sie wird mit einer Bewährungsstrafe und Auflagen konfrontiert, die sich widersprechen.""Wir können auch nicht so einfach aus dem Haus gehen, denn Amal fürchtet, sie könnte an einem Checkpoint angehalten und wieder inhaftiert werden. Ich rufe sie dauernd an, weil ich fürchte, dass Polizisten kommen, um ihren Hausarrest zu kontrollieren. Und wenn sie sich bei der Polizei meldet, haben wir Angst, dass sie wieder in Gewahrsam genommen wird", sagt Mohamed Lotfy. Ihre Anwälte haben Einspruch gegen das Urteil zu dem Video eingelegt und um eine Begnadigung durch den Präsidenten ersucht. Aber das könnte eine Wiederaufnahme des Verfahrens bedeuten - und das Risiko weiterer Haft beinhalten. "Sie kann ihr Leben nicht planen", klagt ihr Mann. "Sie ist immer noch angeklagt, sie kann jederzeit wieder festgenommen und verurteilt werden." Das wirkt sich auch auf Mohamed Lotfys eigene Arbeit für Menschenrechte aus. Als Mitgründer der Egyptian Commission for Rights and Freedoms stellt er beispielsweise Nachforschungen zu Personen an, die der ägyptische Staat verschwinden lässt. "Ich war 15 Jahre lang in der Menschenrechtsarbeit aktiv, bevor Amal verhaftet wurde", sagt Mohamed Lotfy. "Ich habe dauernd über schwierige Geschichten berichtet und Folter dokumentiert. Aber ich habe nie wirklich das Leiden der Angehörigen verstanden, ich habe immer mehr an die Opfer gedacht. Erst als ich es selbst erleben musste, habe ich gemerkt, wie verheerend das ist." Ruth Michaelson © Deutsche Welle 2019

Die wahren Feinde des Arabischen Frühlings

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Damit die Menschen in der arabischen Welt sich aus dem Joch der Militärherrschaft befreien können, muss ein neues Gleichgewicht zwischen den politischen und gesellschaftlichen Kräften und dem Militär gefunden werden. Doch auch Jahre nach dem Arabischen Frühling scheint dieses Ziel in weiter Ferne. Von Ali Anouzla | In mehr als einem arabischen Land wird derzeit die Macht von einem Militärherrscher zum nächsten weitergereicht. Auch wenn es oberflächlich gesehen von Fall zu Fall Unterschiede gibt, bleibt das Prinzip das gleiche. Von Algerien über den Sudan, Mauretanien und Libyen bis nach Ägypten wiederholt sich dies nun seit einem halben Jahrhundert immer wieder. Dass sie das Militär dazu gebracht haben, öffentlich Stellung zu beziehen und sich als der wahre Herrscher über das Land zu erkennen zu geben, war wohl der größte Erfolg der jüngsten Proteste in Algerien. Nach der Absetzung Abdelaziz Bouteflikas und seiner Entourage gilt jetzt der Oberbefehlshaber der Armee, Ahmed Gaid Salah, als der starke Mann im Staat. In Wahrheit herrschten die Militärs jedoch die ganze Zeit über Algerien. Sie waren es, die als "Präsidenten-Macher" vor zwanzig Jahren Abdelaziz Bouteflika aus seinem Exil in den Emiraten zurückholten und ihn als ewigen Herrscher über das algerische Volk installierten und von da an aus dem Hintergrund mitregierten. Im Sudan taktiert unterdessen nach dem Sturz Omar al-Baschirs der Militärrat, sozusagen der verlängerte Arm seines Regimes, um nicht auf die Forderungen der zivilgesellschaftlich getragenen Revolutionsbewegung eingehen zu müssen. Stattdessen arbeitet er an einer Neuauflage der alten Militärherrschaft, die seit der Unabhängigkeit des Sudan vor etwas mehr als sechzig Jahren die Macht im Land hat. In Mauretanien gestaltet sich die Lage noch eindeutiger: Der selbst durch einen Militärputsch an die Macht gekommene General Mohamed Abdel Aziz will die Regierungsverantwortung mittels höchst fragwürdiger Wahlen an seinen Verteidigungsminister General Mohamed Ghazouani übergeben, damit die Macht in den Händen des Militärs bleibt. Im Würgegriff der Generäle Und um Libyen steht es noch schlimmer: Dort versucht ein pensionierter General, Khalifa Haftar, sich mit Waffengewalt zum Herrscher zu machen, ganz im Stile des Tyrannen Muammar al-Gaddafi, der über vier Jahrzehnte lang die libysche Bevölkerung unterjocht hatte.Und Ägypten? Am Nil hat das Militär, das seit dem Putsch 1952 über das Land herrscht, nicht nur die Politik fest im Griff. Es kontrolliert ein riesiges Wirtschafts- und Medienimperium, das den Staat quasi in der Hand hat und jedes Detail in der Gesellschaft bestimmt und steuert. Insgesamt gibt die Lage ein äußerst düsteres Bild ab. Das gilt umso mehr angesichts dessen, dass es innerhalb der politischen Kräfte in diesen Ländern Fraktionen gibt, die nach wie vor glauben, dass das Militär die Rolle eines gesellschaftlichen Motors für neue Revolutionen übernehmen könnte – sogar unter den Revolutionären selbst. Und das, obwohl es das Militär ist, das seit mehr als einem halben Jahrhundert über die arabischen Staaten herrscht und ihre Gesellschaften im Würgegriff hat. Die Vorstellung von der "Unantastbarkeit" der Armee, die als Hüter über Gesellschaft, nationale Einheit und territoriale Integrität hohes Ansehen genießt, ist in der arabischen Welt weit verbreitet und fest im kollektiven Bewusstsein verankert. Der verblichene Mythos des Militärs Aber als die Menschen in den vergangenen sieben Jahren in Syrien, Libyen, Ägypten und dem Jemen auf die Straße gingen, um ihr Recht auf Selbstbestimmung einzufordern, ist dieser Mythos vor aller Augen in sich zusammengefallen. Denn alle diese Staaten wurden und werden immer noch von Militärregimen regiert, die nicht zögern, alles zu opfern, um an der Macht zu bleiben, selbst wenn dann nur noch Ruinen bleiben, über die sie herrschen können.Es ist an der Zeit, der mythisch aufgeladenen Verehrung des Militärs in der arabischen Welt ein Ende zu setzen. Die gesellschaftspolitische Rolle der Armee als Hüterin der Nation muss gegenüber ihrer Funktion als Institution zum Schutz des Landes und seiner Bevölkerung zurücktreten. Als Erstes gilt es, den Blick der Menschen auf das Militär zu ändern und ihm die Aura des "Heiligen" zu nehmen, in die es sich selbst hüllt. Dazu müssen Diskussionen über die Rolle des Militärs im Staat angestoßen und dessen aufgeblähtes Budget der Kontrolle demokratisch gewählter Parlamente unterworfen werden. Genauso bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kauf unnötiger Waffensysteme, die meistens gar nicht zum Einsatz gelangen. Und wenn doch auf sie zurückgegriffen wird, dann nicht selten gegen die eigene Bevölkerung. Vielfach werden die Verträge nur geschlossen, um politische Unterstützung für die herrschenden Regime zu erkaufen oder mit den Waffen zu prahlen. So zum Beispiel in den Golfstaaten, die sich ein Wettrüsten liefern und moderne, teure Waffensysteme erwerben, um sie dann in Abu Dhabi oder Riad zur Schau zu stellen.Der verheerende Krieg im Jemen beweist jedoch gerade, dass die Armeen beider Länder gar nicht in der Lage sind, diese Waffen zu ihrem Vorteil einzusetzen: Weitaus schlechter ausgerüstete Milizen fügen ihnen Verluste zu, die man angesichts der äußerst ungleichen Bewaffnung der Konfliktparteien für unmöglich gehalten hätte. Die Armee von ihrem hohen Sockel heben Der demokratische Transformationsprozess beginnt mit der Findung eines neuen Gleichgewichts im Staat zwischen den politischen und gesellschaftlichen Kräften und dem Militär. Die Armee muss von ihrem hohen Sockel gehoben werden und sich auf ihren eigentlichen Auftrag – den Schutz des Landes – besinnen. Darüber hinaus müssen ihr gesetzlicher Handlungsspielraum im Inland und ihre verfassungsmäßige Rolle in Staat und Gesellschaft präzise definiert werden. Viele arabische Staaten standen oder stehen immer noch unter dem Joch jener Militärs, die einst an der Spitze eines Putsches standen. Wie in Ägypten und Mauretanien richteten sie sich in manchen Fällen gegen gewählte Regierungen. Und wie in Algerien und dem Sudan entwickelten sich die Regime vielfach zu Oligarchien, in denen opportunistische Eliten und korrupte Geschäftsmänner die Gesellschaft fest im Griff haben, sich bereichern und die Hoffnungen und Träume der Menschen zerstören. Die Zeit ist reif, um den Platz des Militärs im politischen und gesellschaftlichen Gefüge der arabischen Staaten kritisch zu hinterfragen und seine Stellung vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in der arabischen Welt neu zu bewerten. Denn in diesen kommt dem Militär eine zentrale Rolle zu. Es kontrolliert nach wie vor das Schicksal der Menschen, die schon seit Jahrzehnten unter seiner Herrschaft leiden. Trotzdem betrachten sie die Armee immer noch als Erlöser und Retter – und darin besteht die eigentliche Tragik! Ali Anouzla © Qantara.de 2019 Aus dem Arabischen von Thomas Heyne

Das Gedächtnis der ägyptischen Revolution bewahren

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Mit seinem digitalen Kunstprojekt Augmented Archive will der Künstler Kaya Behkalam eine Art subversives Archiv anlegen, das die Geschichte der ägyptischen Revolution von 2011 aus der Perspektive der Bürger beschreibt. Mithilfe der App können Nutzer die Orte der Proteste aufsuchen und deren Geschichte kennenlernen. Eslam Anwar sprach mit Kaya Behkalam über sein Projekt. | Herr Behkalam, wie sind Sie auf die Idee zu Augmented Archive gekommen? Kaya Behkalam: Wer über historische Dokumente verfügt, bestimmt auch die Geschichtsschreibung und die Bedeutung wichtiger Ereignisse im kollektiven Gedächtnis. Zunächst stand deshalb die Frage im Raum, wie man mit der Fülle an Videomaterial umgehen kann, das nach der Revolution vom 25. Januar 2011 in Kairo entstanden ist. Wie kann man die Dokumentation historischer Ereignisse im Zeitalter der Digitalisierung neu definieren? Das kollektive Gedächtnis ist hart umkämpft. Der ägyptische Machtapparat versucht, die Geschichte umzuschreiben und das revolutionäre Erbe der Jugendbewegung, die für den Sturz von Hosni Mubarak gesorgt hat, zu beseitigen. Ich habe gesehen, wie gründlich der öffentliche Raum in Kairo von nahezu allem gereinigt wurde, das an die Revolution erinnert. Ich wollte diese Spuren als wichtige Zeugnisse der Stadtgeschichte bewahren. Konnten Sie dabei auch an andere Projekte anknüpfen? Behkalam: Ich habe bereits mit einer Gruppe ägyptischer Journalisten vom Medienkollektiv Mosireen an einem Projekt namens „858“ gearbeitet, einer Open-Source-Plattform als Videobibliothek des Widerstands. Wir haben die Videos von Schauplätzen der Revolution gesammelt. Mosireen hatte schon andere Projekte initiiert, zum Beispiel die Kampagne Kazeboon (deutsch: Lügner), bei der sie öffentlich Videosequenzen von Übergriffen der Militärs auf Demonstranten zeigten. Diese Art, die Stadt und den öffentlichen Raum wie ein historisches Dokument zu nutzen, hat mich inspiriert. Man kann jetzt durch Kairo laufen und anhand der App die Geschehnisse der Zeit nach 2011 nachvollziehen. Gnadenlose Herrschaft über den öffentlichen Raum Welches waren Ihre größten Schwierigkeiten bei der Realisierung des Projekts? Behkalam: Eine App zu entwickeln, war absolutes Neuland für mich. Vorher hatte ich nur mit Videos und Filmen zu tun. Bei dem Projekt bin ich sehr stark auf meinen Kompagnon, den Programmierer Farhan Khalid, angewiesen. Erst wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, kann ich loslegen. So zu arbeiten, ist ungewohnt für mich. Es hat mich aber auch gezwungen, meine eigene Vorgehensweise zu hinterfragen. Bei Ihrer künstlerischen Arbeit geht es Ihnen um die Schnittstelle von Politik, Medien und historischer Dokumentation. Wie beurteilen Sie heute, sieben Jahre nach der Revolution, die aktuelle Lage in Ägypten? Behkalam: Das Projekt spiegelt wider, was ich derzeit für das größte Problem Ägyptens halte: die gnadenlose Herrschaft über den öffentlichen Raum, sei es die Straße oder das Internet. Es gibt in Ägypten keinerlei Raum für kritische oder offene Debatten über die Erfahrungen, Konflikte und Opfer der letzten Jahre. Ich versuche mit meinem Projekt, ein kleines Zeichen zu setzen. Mit Augmented Archive soll es möglich sein, anhand von Dokumenten wie etwa Videos nochmal über diese wichtige Zeit nachzudenken. Wir haben uns angeschaut, wie Straßen und Plätze in Kairo im heutigen Kontext erscheinen, um zu reflektieren, welchen Stellenwert sie damals hatten und welche Ereignisse sich dort nach 2011 abspielten.Erinnerung an eine Aufbruchstimmung Wie bewerten Sie die Reaktionen auf die App? Und welche Städte umfasst sie bis jetzt? Behkalam: Momentan enthält die App nur Material aus Kairo. Deswegen stammen auch die meisten ihrer Nutzer aus der ägyptischen Hauptstadt. Ein paar hundert Menschen teilen die App und geben mir immer wieder Rückmeldungen. Ab und zu berichten Nutzer auch über ihre Erlebnisse, wenn sie das Material vor Ort anschauen, aber bis jetzt haben nur wenige eigenes Material beigesteuert. Ich hoffe, dass wir in Zukunft mehr Rückmeldungen bekommen und die App nicht nur zum Dokumentieren, sondern auch zum Kommunizieren verwendet wird. Sie sind visueller Künstler, Filmemacher und Autor. Wie kommen Sie mit den unterschiedlichen Methoden in den einzelnen kreativen Disziplinen zurecht? Behkalam: Für mich persönlich sind diese Kategorien weder wichtig noch zweckdienlich, vielleicht sind sie gar nicht wirklich existent. Ich bewege mich in einem sehr weiten Feld von kreativen Möglichkeiten und möchte in nicht-akademischer Form neue Ausdrucksmöglichkeiten erforschen.   [embed:render:embedded:node:19671]   Abgesehen von Ihrem Projekt haben Sie als Dozent an der Amerikanischen Universität in Kairo gearbeitet. Inwiefern hat sich diese Lehrtätigkeit in Ihrem künstlerischen Werdegang bemerkbar gemacht? Behkalam: Ich bin am 12. Februar 2011 nach Ägypten gekommen und mehr als fünf Jahre im Land geblieben. Ursprünglich wollte ich nur einen Monat lang als „Artist in Residence“ im Rahmen einer Ausstellung in der Townhouse Gallery in Kairo bleiben. Als ich erkannt hatte, wie wichtig die Ereignisse nach dem Sturz von Mubarak waren, beschloss ich, meinen Aufenthalt zu verlängern. Ich begann an der Amerikanischen Universität zu unterrichten. Diese Jahre waren für mich persönlich, aber auch künstlerisch und politisch sehr wichtig. Es war faszinierend, die Aufbruchstimmung Anfang 2011 mitzuerleben und zu sehen, wie innovative Foren und neue Debatten entstanden. Das war nicht nur auf dem Tahrir-Platz so, sondern auch Bezirksausschüssen und an der Amerikanischen Universität. Wegen der politischen Ereignisse wurde der Lehrplan komplett umgestaltet. Statt der üblichen Veranstaltungen zur klassischen europäischen Kunstgeschichte gab es zum Beispiel Vorlesungen, in denen darüber gesprochen wurde, welche außereuropäischen Quellen der Kunstgeschichte für die damalige Situation relevant sein konnten. Was planen Sie als nächstes? Behkalam: Nach dem Augmented Archive-Projekt zu Kairo bereite ich derzeit eine Augmented Archive-App vor, die historisches Material zur Stadt Berlin enthalten wird. Interview: Eslam Anwar Übersetzung aus dem Arabischen: Andreas Bügner © Goethe-Institut 2019 Dieser Artikel erschien erstmals beim Goethe-Institut Kairo. Kaya Behkalam lebt in Berlin und Kairo. Von 2012 bis 2015 war er Dozent an der Kunstfakultät der American University und Leiter der Sharjah Art Gallery der Universität. Das Projekt Augmented Archives entstand mit Unterstützung des Goethe-Instituts in Kairo.

Krieg den Palästen!

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In Ägypten haben trotz anhaltender Repressionen am Wochenende hunderte Menschen den Rücktritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi gefordert. Losgetreten hatte den Protest ein bis dahin kaum bekannter Bauunternehmer mit seinen Enthüllungen über die ägyptische Armee. Von Karim El-Gawhary | Plötzlich war einfach die Angst weg. Letzten Freitag trauten die Ägypter ihren Augen nicht, als sie fast zeitgleich in den Sozialen Medien Videos von Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, in mehreren anderen Stadtteilen Kairos sowie Gizas, in Alexandria, in Suez und in den Nildeltastädten Mahalla und Mansoura sahen. Die Demonstranten riefen zum Sturz von Präsident Abdel Fattah al-Sisi auf – mit den gleichen Slogans, wie einst zu Zeiten der Arabellion am Nil, als sie Mubarak zum Rücktritt aufforderten. Es waren keine Massendemonstrationen wie beim Arabischen Frühling vor acht Jahren, manchmal war nur ein Dutzend Menschen zu sehen, manchmal waren es vielleicht ein paar hundert. Doch das eigentliche Ereignis war, dass diese Demonstrationen überhaupt stattfanden. "Habt keine Angst, Al-Sisi muss weg!" lautete eine der Parolen der Demonstranten. Mut zum Aufbegehren Jahrelang hatte es der ägyptische Sicherheitsapparat geschafft, ein allgemeines Demonstrationsverbot mit harter Hand durchzusetzen. Wer in Ägypten auf der Straße demonstriert, geht bis heute ein hohes persönliches Risiko ein, verhaftet und für Jahre weggesperrt zu werden. Den meist sehr jungen Menschen, die auf den Demonstrationen zu sehen waren, schien das jedoch egal zu sein. Mindestens 74 Menschen wurden verhaftet, berichtete die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Sicherheitskreise. Doch das hielt einige Jugendliche nicht davon ab, am vergangenen Samstag in Suez erneut zu demonstrieren, bevor sie mit Tränengas auseinandergetrieben wurden. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo sorgte dagegen von Anfang an eine hohe Präsenz der Sicherheitskräfte dafür, dass sich die Ereignisse vom Freitag nicht am Samstag wiederholen konnten.Motiviert wurden die Proteste von einem Phänomen, das das Land am Nil nun seit zwei Wochen in Atem hält. Ein bis dahin kaum bekannter Bauunternehmer namens Mohamed Ali, der 15 Jahre lang als Subunternehmer für die ägyptische Armee gearbeitet hatte und heute in Spanien lebt, begann auf Videos in den Sozialen Medien aus dem Nähkästchen zu plaudern. Ein Whistleblower aus Armeekreisen Wie ein Whistleblower aus dem inneren Kreis der umfangreichen Geschäftstätigkeiten der Armee, gab er mutmaßliche Details über Milliarden ägyptischer Pfunde an Immobiliengeschäften preis und klagte Al-Sisi persönlich mit pikanten Details an, große Summen Geldes für dessen Präsidentenpaläste zu verschwenden. Ali selbst, der an diesen Geschäften mitverdient hat, aber nun offensichtlich ungehalten ist, weil ihm die Armee einiges Geld schuldet, kommt dabei wenig sympathisch rüber. Aber er spricht in einem volkstümlichen Tonfall, der für alle in Ägypten verständlich ist. Die Ägypter begannen die Videos in Massen anzuklicken und warteten jeden Tag begierig, wie bei einer Fernsehserie, auf die Fortsetzung. Doch damit nicht genug. Mit dem Eis gebrochen outen inzwischen weitere Menschen die finanziellen Machenschaften Al-Sisis und des Militärs, bestätigen zum Teil Mohamed Alis Anschuldigungen und erheben sogar neue. "Ihr lebt in Palästen, wir leben von Müllhalden" In einem Land, in dem - laut einer jüngst veröffentlichten staatlichen Statistik - jeder dritte Ägypter unter der Armutsgrenze von etwas weniger als eineinhalb Euros am Tag lebt, traf die Geschichte des für Präsidentenpaläste verschwendeten Geldes offensichtlich einen Nerv. "Warum lebt er in Palästen, während wir von Müllhalden fressen?", schrie eine Frau am Rande einer Demonstration in eine Handykamera, bevor sich auch dieses Video auf den Sozialen Medien verbreitete.   Echoing Mohammed Ali’s videos about El-Sisi’s corruption, an Egyptian woman tells the camera: “Why is he living in palaces while we eat from dumpsters?” pic.twitter.com/kRTporaBSa — Hassan Hassan (@hxhassan) 22. September 2019   Al-Sisis bislang einzige Reaktion auf die Proteste trug indes wenig dazu bei, die Wogen zu glätten. "Ich habe Paläste gebaut - und ich werde noch mehr bauen". Denn die seien nicht für ihn, sondern für den neuen Staat, erklärte er. "Jemand möchte dich diffamieren, dir Angst machen und das zunichtemachen, was die Streitkräfte für Ägypten geleistet haben", so der Präsident, um dann noch hinzuzufügen: "Das ist Ägyptens Armee, das ist Ägyptens Armee, das ist Ägyptens Armee – das Zentrum der Schwerkraft für Ägypten und die ganze Region." Zu den konkreten Anschuldigungen bezog er jedoch mit keinem Wort Stellung. Dass es Mohamed Ali mit seinen Videos gelang, die Proteste auf Ägyptens Straßen - wenngleich in kleinem Ausmaß - wiederzubeleben, hat in Ägypten wohl kaum jemand für möglich gehalten. Völlig unklar ist, wer die fast zeitgleich ablaufenden Proteste vom vergangenen Freitag koordiniert hat. Die kleine verbliebene Opposition war von den Demonstrationen ebenso überrascht wie die einstigen Tahrir-Aktivisten. Ein Indiz für interne Machtkämpfe? Viele spekulieren, dass innerhalb der Armee, der Sicherheitskräfte und des Regimes ein Machtkampf über den weiteren Kurs Ägyptens und das Schicksal Al-Sisis ausgebrochen sein könnte. Der Subunternehmer Mohamed Ali sei hier nur eine Marionette, vermutet man. Auch die Proteste seien von dieser Seite organisiert worden. Dass der ehemalige Stabschef und einstige einflussreiche präsidiale Gegenkandidat Al-Sisis, Sami Anan, sich vermeintlich zu Wort meldete, befeuerte die Spekulationen nur noch weiter an. Anan verbüßt eine zehnjährige Haftstrafe, die er mittlerweile in einem Militärkrankenhaus absitzt. Auf seiner Facebook-Seite rief er den Verteidigungsminister Muhammad Zaki dazu auf, Al-Sisi zu verhaften, wenngleich Anans Tochter inzwischen abgestritten hat, dass dieser Aufruf von ihrem Vater stammt. Tatsache bleibt, dass es rund um Mohamed Ali und die Proteste mehr Fragezeichen als Antworten gibt. Aber selbst wenn das Ganze von einem Teil innerhalb des Regimes, der Streitkräfte oder von einstigen Mubarak-Leuten gelenkt sein sollte, könnten die Geschehnisse eine Dynamik entwickeln, die am Ende von niemandem mehr kontrolliert werden. Das gilt umso mehr, als an anderen Orten in dieser politisch vermeintlich stillstehenden Region, etwa im Sudan oder in Algerien dieses Jahr einiges in Bewegung geraten ist. Besonders die im Sudan mit den Militärs vor wenigen Wochen ausgehandelte Einsetzung einer zivilen Übergangsregierung wird auch in Ägypten mit großem Interesse verfolgt. Mit Al-Sisis Besuch in New York im Vorfeld der UN-Vollversammlung, warten im Moment alle in Ägypten ab, was als nächstes geschieht. Mohamed Ali produziert indes munter weiter neue Fortsetzungen seiner Videos. In der letzten Episode rief er zu weiteren Protesten am nächsten Freitag auf. Karim El-Gawhary © Qantara.de 2019

Vom Ende der arabischen Einheit

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Der Zusammenbruch des traditionellen Multilateralismus in der arabischen Welt geht auch mit einer deutlichen Veränderung der amerikanischen Nahostpolitik unter Präsident Donald Trump einher, schreibt Jasmine M. El-Gamal in ihrem Essay | Traditionell liegt die Aufgabe, im Nahen Osten den Multilateralismus zu fördern, bei zwei Institutionen: der Arabischen Liga, einer umfassenden Allianz für die Zusammenarbeit bei politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten, und beim Golfkooperationsrat (GKR), der sich in erster Linie mit Wirtschaftsthemen beschäftigt. Trotz der Unterschiede bezüglich ihrer Geschichte, ihres Schwerpunkts und ihrer Mitglieder wurden beide Körperschaften gegründet, um bei entscheidenden Themen – wie dem Widerstand gegen Israel – die arabische Einheit zu gewährleisten und Konflikte unter den Mitgliedstaaten zu verhindern. Während der Jahrzehnte des israelisch-palästinensischen Konflikts waren sich die arabischen Staaten darin einig, einen palästinensischen Staat zu unterstützen. Aber seit den Aufständen des Arabischen Frühlings von 2011 rückten drei deutlich umstrittenere Themen in den Vordergrund: die wahrgenommene Bedrohung durch den Iran, die Verbreitung des regionalen Terrorismus und der Aufstieg des politischen Islam (oder auch Islamismus). Diese Entwicklungen haben die traditionellen Bündnisse unter Druck gesetzt und zu deutlich flexibleren Mustern multilateraler Zusammenarbeit in der Region geführt. Und dieser Trend wird durch die aktuelle westliche Nahostpolitik – insbesondere jene der Vereinigten Staaten – wahrscheinlich noch verstärkt. Iran als Interessensbedrohung für die arabischen Staaten Erstens betrachten die sunnitisch-arabischen Regierungen den regionalen Einfluss und die Aktivitäten des Iran als grundlegende Bedrohung ihrer Interessen. Durch die immer stärkere Rivalität zwischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten einerseits und der beiden gegen den Iran andererseits wurde die Gemeinsamkeit ihrer traditionellen Feindschaft dieser Länder gegen Israel in den Hintergrund gedrängt. In der Tat arbeiten einige arabische Regierungen, um der iranischen Bedrohung zu begegnen, mehr als je zuvor an einer engen Beziehung zu Israel. Diese Zusammenarbeit, die weitgehend hinter den Kulissen stattfand, wurde im Februar 2019 auf der von den USA geleiteten "Anti-Iran-Konferenz" in Warschau offensichtlich – die der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als Durchbruch für die arabisch-israelischen Beziehungen lobte.Im Zuge dessen, dass Saudi-Arabien und der Iran ihren strategischen Wettbewerb und ihre Stellvertreterkriege in der Region weiterführen, werden diese Verbindungen vermutlich noch stärker werden. Zweitens wurde die Bedrohung durch den dschihadistischen Terrorismus im Nahen Osten durch die Gewalt in Syrien und Libyen noch verstärkt. Sie hat sich in Ägypten, Tunesien, Jordanien und anderen Ländern in einer Vielzahl von Anschlägen geäußert, die Arabische Liga belastet und ihre Mitgliedstaaten gegeneinander aufgebracht. Regionale Spaltungen im Zuge der Arabellion Nachdem der damalige libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi Anfang 2011 einen Volksaufstand in seinem Land mit Gewalt zerschlug, schloss die Liga beispielsweise Libyen aus und unterstützte später aktiv Gaddafis Sturz durch die NATO und libysche Rebellen. Bald darauf warfen die Mitglieder der Arabischen Liga dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad vor, den Terrorismus in der Region zu fördern, und schlossen auch Syrien als Mitglied aus.Heute ist die Liga beim Thema der syrischen Mitgliedschaft gespalten. Einige sunnitisch-arabische Staaten sind strikt dagegen und argumentieren, Assad habe dem Iran erlaubt, seinen Einfluss in der Region auszuweiten, und er habe schiitische Milizen wie die Hisbollah im Libanon gefördert, die eine direkte Bedrohung für ihre Regimes darstellen. Die Regierungen von Tunesien und dem Irak hingegen haben sich öffentlich dafür eingesetzt, Syrien wieder aufzunehmen. Streitfall politischer Islam Und schließlich wurden die regionalen Spaltungen nach dem Arabischen Frühling durch den Aufstieg des politischen Islam verschärft – wozu auch der Wahlsiege der Islamisten in Ländern wie Ägypten und Tunesien beitrugen. Aus Angst vor der islamistischen Welle setzen sich die Politiker in Ägypten, Saudi-Arabien und den Emiraten unerbittlich und gemeinsam dafür ein, den wachsenden Einfluss von Gruppen wie der Muslimbruderschaft in der Region zu bekämpfen. Das drastischste Beispiel dafür war der gewalttätige Putsch des ägyptischen Militärs gegen Mohamed Mursi, ein Mitglied der Bruderschaft, der gleichzeitig der erste demokratisch gewählte Präsident seines Landes war. Die arabischen Länder waren über den Sturz Mursis uneins. Saudi-Arabien und die Emirate unterstützten die Aktion, aber Qatar war strikt dagegen.Qatar-Blockade und Anti-Iran-Block Diese drei Probleme haben nicht nur die Arabische Liga gespalten, sondern auch den auf Wirtschaftsthemen ausgerichteten GKR. Insbesondere Saudi-Arabien, Bahrain, die Emirate und das Nicht-GKR-Mitglied Ägypten haben Qatar seit 2017 politisch und wirtschaftlich blockiert – mit der Begründung, das Land unterstütze den Terrorismus in der Region, und seine Hauptstadt Doha diene als sicherer Hafen für Islamisten im Exil. Auch Qatars enge Verbindungen zur Türkei und zum Iran sind eine Quelle regionaler Spannungen. Der Zusammenbruch des traditionellen Multilateralismus in der Region geht auch mit einer deutlichen Veränderung der amerikanischen Nahostpolitik unter Präsident Donald Trump einher. Sein Vorgänger Barack Obama hatte sich intensiv für Multilateralismus und Koalitionsbildung eingesetzt, was 2015 das Nuklearabkommen mit dem Iran und zuvor die von der NATO geleitete Militärintervention in Libyen ermöglichte. Trump hingegen erklärt stolz seine Abneigung gegen multilaterale Institutionen und bevorzugt es, mit gleichgesinnten Partnern (und Gegnern) auf bilateraler Grundlage zu verhandeln. Darüber hinaus orientieren sich die USA aufgrund ihrer massiven Gegnerschaft zum Iran vollständig am regionalen Anti-Iran-Block. Dieser Ansatz der Trump-Regierung macht es nur noch wahrscheinlicher, dass die arabischen Regierungen zu wichtigen Themen weiterhin mit einzelnen regionalen Verbündeten zusammenarbeiten, anstatt zu versuchen, innerhalb der Arabischen Liga oder dem GKR zu einem breiteren Konsens zu kommen. Und die Aussichten auf eine arabische Einheit, die bereits jetzt schlecht sind, könnten dadurch noch weiter leiden. Jasmine M. El-Gamal © Project Syndicate 2019 Aus dem Englischen von Harald Eckhoff Jasmine M. El-Gamal ist Senior Fellow am "Rafik Hariri Center for the Middle East"  der Public Policy-Gruppe "Atlantic Council" in Washington D.C.

Rache ist nicht die Lösung

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Zwar wurde nach dem Arabischen Frühling einigen Diktatoren der arabischen Welt der Prozess gemacht. Dafür, dass sie repressive Polizeistaaten aufgebaut und den sozialen Frieden zerstört haben, mussten sie sich allerdings nie vor Gericht verantworten. Shafeeq Ghabra kommentiert. | In der jüngeren Vergangenheit brachten gesellschaftliche Bewegungen, die für Freiheit und politische Reformen auf die Straße gingen, gleich mehrere Herrscher in der arabischen Welt zu Fall. Ihre Gerichtsprozesse sind von historischer Bedeutung und richtungsweisend für die zukünftige Entwicklung der betroffenen Länder. Ein genauer Blick offenbart jedoch, dass das Unrecht und die Verbrechen der diktatorischen Regime vor Gericht keineswegs umfassend aufgearbeitet wurden. Iraks ehemaliger Präsident Saddam Hussein wurde bereits vor dem Arabischen Frühling vor Gericht gestellt und verurteilt. Ihm folgten später der gestürzte ägyptische Präsident Hosni Mubarak sowie jüngst der ehemalige Staatschef des Sudan, Omar al-Baschir, und die zentralen Pfeiler des Regimes von Bouteflika in Algerien. Die zentralen Missstände, die sie zu verantworten haben, wurden jedoch in keinem dieser Prozesse verhandelt. Saddam Hussein wurde zum Beispiel für das Massaker in der irakischen Stadt Dudschail 1982 verurteilt. Omar al-Baschir steht derweil wegen des Besitzes von Geld vor Gericht, das er entweder aus öffentlichen Kassen veruntreut oder unrechtmäßig von anderen arabischen Staaten erhalten haben soll. Wegen Veruntreuung im großen Stil und Vertrauensmissbrauch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern wurde den Diktatoren hingegen bisher nicht der Prozess gemacht. Auch für all die Kriege, Hinrichtungen und die katastrophalen Entscheidungen, die sie zu verantworten haben, wurden sie nicht zur Rechenschaft gezogen. Rache statt Aufarbeitung von Verbrechen Diese Diktatoren haben Polizeistaaten und Überwachungsregime errichtet, in denen sich sogar engste Familienmitglieder gegenseitig bespitzeln. Sie haben das soziale Gefüge ihrer Gesellschaften zerstört, sie in Lethargie zurückgelassen und zu Orten gemacht, in denen es kein Leben in Würde gibt. Für nichts von alledem mussten sie sich vor Gericht verantworten, obwohl sie der Grund dafür sind, dass eine ganze Generation junger Menschen davon träumt, ihre geschundenen Heimatländer mitsamt ihren verkrusteten Regime hinter sich zu lassen und auszuwandern.Nachdem Saddam Hussein 2003 gestürzt wurde, hätte in seinem Prozess aufgearbeitet werden müssen, wie er sein Amt missbrauchte, um von Kuwait bis zum Iran einen Krieg nach dem anderen anzuzetteln. Er hätte für die blutige Niederschlagung des Aufstandes von 1991 genauso zur Rechenschaft gezogen werden müssen, wie für all die Katastrophen, in die er den Irak führte, bis das Land schließlich unter der amerikanischen Besatzung gänzlich in sich zusammenfiel. Auch seine Verbrechen an Weggefährten, Freunden und Eliten innerhalb wie außerhalb der Baath-Partei sowie an den Kurden, den Schiiten und den sunnitischen Oppositionellen im Land hätten vor Gericht gesühnt werden müssen. Saddam Hussein in einem Schauprozess zum Tode zu verurteilen und hinzurichten, war eine schlechte Entscheidung; es war eher ein Akt der Rache, als ein echter Prozess, der das wahre Gesicht der Tyrannei aufgedeckt hätte.Genauso müsste sich Omar al-Baschir vor Gericht eigentlich für seine gesamte Amtszeit als Präsident des Sudan verantworten: Angefangen beim Militärputsch gegen die damalige, demokratisch gewählte Regierung 1989, über die zahllosen Verstöße gegen die Menschenrechte und den Verlust des Südsudan, bis hin zum Staatszerfall, den Bürgerkriegen und den Massakern, die von ihm ins Leben gerufene Milizen begangen haben. Immerhin erhob der internationale Strafgerichtshof in Den Haag bereits 2009 vor dem Hintergrund des Darfur-Konflikts Anklage gegen Al-Baschir wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Korruption, Überwachung und Armut Im Falle des ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak verhält es sich ganz ähnlich. Statt sich auf einen isolierten Anklagepunkt zu stützen, wäre es notwendig gewesen, anhand des Prozesses die Amtszeit Mubaraks, das Unrecht und die Korruption als Ganzes aufzuarbeiten. Nicht nur dass unter Mubaraks Ägide einige wenige Personen große Reichtümer anhäufen konnten und der Präsident der Republik sein Amt faktisch weitervererben wollte. In Mubaraks Amtszeit hat sich Ägypten zu einem Polizeistaat entwickelt, in dem die Sicherheitskräfte systematisch Menschenrechtsverletzungen begingen, wie den Mord an dem Blogger Khaled Said, der zu einer Ikone der Revolution geworden ist. All das hätte einen umfassenden und transparenten Prozess zwingend erforderlich gemacht. Wer, wenn nicht das Regime, ist dafür verantwortlich, dass sich Armut und Arbeitslosigkeit immer weiter ausgebreitet haben und das Land auf internationale Hilfe angewiesen ist?Und wer trägt die Verantwortung für die Inhaftierung des Bloggers Kareem Amer unter Hosni Mubarak? Wer ist verantwortlich für das seelische Leid, das Amer ab 2006 für mehr als drei Jahre in ägyptischen Gefängnissen widerfuhr? Eigentlich wurde er – genauso wie dutzende andere – lediglich wegen Präsidentenbeleidung verfolgt. Zusätzlich wurde ihm aber noch der Vorwurf der Schmähung des Islams angehängt. Im Gefängnis musste er dann schreckliche Torturen durchstehen. Und als er später Gelegenheit dazu hatte, schrieb er über den Wärter, der ihn misshandelte. Wie ergeht es Amer und den anderen Opfern dieser unmenschlichen Regime wohl heute? Nachdem Amer Ägypten und die arabische Welt in Richtung Europa verlassen hatte, produzierte er einen Dokumentarfilm. Der Film macht deutlich, dass die arabischen Despoten sich einer Sache nicht bewusst sind: Die lange Liste ihrer Verbrechen wird länger und länger, weil sie weder geahndet noch aufgearbeitet werden. Die Rückkehr der Tyrannei in neuem Gewand? Wie sollen sich die Menschen in der arabischen Welt von der Tyrannei der Despoten befreien, wenn sie sie nicht auf Basis dessen zur Rechenschaft ziehen, was sie über die Pflichten und Verantwortung der Herrschenden gegenüber ihrem Volk wissen? Ohne die Aufarbeitung und Bestrafung ihrer Verbrechen, werden die autoritären Regime in neuem Gewand zurückkehren und auch das, was von der arabischen Welt noch übrig ist, an sich reißen. Das stark ambivalente Verhältnis der Menschen in der arabischen Welt zum Staat erklärt sich dadurch, dass diese Staaten bis heute als Instrument für Repression, Zwang, Korruption und persönliche Bereicherung eingesetzt werden. Und selbst wenn Politik und Staat in einigen Fällen Entwicklungserfolge erzielen, dann weil diese partikulären Interessen dient, nicht weil es den Menschen und Gesellschaften zugutekommt. Dass sie nicht nur den Staat ausgehöhlt haben, sondern auch die Gesellschaft zerstört, ist der eigentliche Vorwurf, den man den Despoten der arabischen Welt machen muss. Es reicht aber nicht, sie einfach nur ins Gefängnis zu schmeißen, auch wenn es manchen lieb wäre. Sie umzubringen wie Muammar al-Gaddafi, oder hinzurichten wie Saddam Hussein, ist auch keine Lösung. Es ist ein Akt der Rache, der keinesfalls die systematische Unterdrückung beendet. Wichtiger wäre es, ihre Herrschaft als Ganzes mitsamt ihren Akteuren, ihren Mechanismen und ihrer Brutalität vor Gericht aufzuarbeiten, um etwas Neues aufzubauen und damit die autoritären Regime und ihre Übel wirklich zu überwinden. Das wäre ein Zeichen dafür, dass die arabische Welt echte Reformen und tiefgreifenden Wandel anstrebt, um sich endlich vom Joch der Despoten zu befreien. Shafeeq Ghabra © Qantara.de 2019 Shafeeq Ghabra ist politischer Analyst und arbeitet als Professor für Politikwissenschaft an der Kuwait University. Aus dem Arabischen von Thomas Heyne

Repression führt nicht zu Stabilität

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Die jüngsten Demonstrationen gegen Präsident Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten haben deutlich gemacht, dass sein Militärregime den Rückhalt in der Bevölkerung verloren hat und zunehmend fragiler wird. Eine Analyse von Taqadum al-Khateeb | Gegenüber der Bevölkerung des Landes stützt der ägyptische Präsident die Legitimität seiner Herrschaft vor allem auf zwei Versprechen: Erstens, den Terror zu bekämpfen und zweitens, Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen. Bis jetzt hatte er jedoch weder mit dem einen noch mit dem anderen Erfolg. Anstatt sich auf den Anti-Terrorkampf auf dem Sinai zu konzentrieren, hat sich Al-Sisi mit den Salafisten verbündet. Sein Regime verbreitet Staatsterror und missbraucht das staatliche Gewaltmonopol. Der blutigen Auflösung des friedlichen Protestlagers auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz in Kairo 2013, dem schlimmsten Massaker der jüngeren ägyptischen Geschichte, fielen mehrere hundert Anhänger der Muslimbrüder zum Opfer, tausende wurden verletzt. Ein Exempel der Gewalt statuieren Das Regime lässt Menschen gewaltsam verschleppen und ermorden, verhaftet Oppositionelle und statuiert ein Exempel an ihnen – ganz gleich, ob es sich um Zivilisten oder Angehörige des Militärs handelt. Insgesamt haben die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Al-Sisi ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Den Sicherheitsapparat, der das Land immer fester im Griff hat, kontrolliert der Al-Sisi mit Hilfe seines Sohnes, der als stellvertretender Präsident des Geheimdienstes fungiert. Die wirtschaftliche Lage hat sich derweil in den vergangenen Jahren immer weiter zugespitzt. Mittlerweile leben 32,5 Prozent der Bevölkerung, also fast ein Drittel der Ägypterinnen und Ägypter, unter der Armutsgrenze.Auch außenpolitisch gab das Regime in den letzten Jahren vielfach kein gutes Bild ab. Der regionale Einfluss Ägyptens schwindet, das Land ist auf Unterstützung aus den Golfstaaten angewiesen und selbst auf sein historisch verbrieftes Recht auf einen bestimmten Anteil des Nilwassers verzichtet es unter der Herrschaft Al-Sisis. Am Tropf der Golfstaaten Das Regime hat zudem die beiden strategisch wichtigen Inseln Tiran und Sanafir an Saudi-Arabien abgetreten, um sich im Gegenzug Finanzhilfen und die Unterstützung des Königreichs und der Emirate auf dem internationalen Parkett zu sichern. Hinzu kommen die systematische Korruption und die Verschwendung öffentlicher Gelder durch den Präsidenten, seine Familie und die loyalen Eliten an den Schaltstellen der Macht. Angesichts dieser Entwicklungen hat sich nicht nur in der ägyptischen Öffentlichkeit immer mehr Unmut angestaut, sondern auch im Sicherheitsapparat und insbesondere dem Militär. Das Fass zum Überlaufen brachten die Auftritte des abtrünnig gewordenen Bauunternehmers und Schauspielers Mohammed Ali aus seinem Exil in Spanien. In seinen Videos prangert er an, dass Al-Sisi, seine Familie und seine Vertrauten in den Machtzirkeln das Land aussaugen, während ein Drittel der Bevölkerung in Armut lebt.Die Proteste, die am 20. September die Forderung nach dem Rücktritt Al-Sisis auf die Straße trugen, sind die größten Demonstrationen seit seiner Machtergreifung durch einen Militärputsch im Jahr 2013. Sie gingen jedoch nicht von den etablierten politischen Bewegungen des Landes aus. Das bedeutet, dass auch bisher unbeteiligte gesellschaftliche Gruppen anfangen aufzubegehren. Bei der Entstehung der Proteste spielte außerdem die sozioökonomische Peripherie des Landes eine bedeutende Rolle – wichtiger noch als dessen Zentrum Kairo mit dem symbolträchtigen Tahrir-Platz. Dadurch manifestierten sie sich anders als vorausgegangene Proteste und waren wirkungsvoller als die kleinen, mit harter Hand niedergeschlagenen Demonstrationen, die das Land bisher unter Al-Sisi erlebt hat. Seit dem 20. September ist Ägypten ein anderes Land Noch herrscht untern Beobachtern und Expertinnen Uneinigkeit darüber, ob bestimmte Teile des Regimes die Demonstrationen unterstützt haben, oder gar hinter der Figur des abtrünnigen Bauunternehmers Mohammed Ali stehen. Mittlerweile dürfte diese Frage allerdings schon irrelevant sein, denn sollten Teile des Regimes ihre Finger im Spiel haben, dann konnten sie Al-Sisi bereits einen empfindlichen Schlag versetzen. Falls nicht, bietet sich jetzt für jene Kreise eine vielversprechende Möglichkeit, auf den Zug aufzuspringen und sich für alle Eventualitäten zu wappnen.Seit dem 20. September hat sich die politische Lage in Ägypten dramatisch gewandelt. Die Wiederherstellung des Status quo ante ist ausgeschlossen, denn wie von verschiedenen Seiten zu vernehmen ist, tobt zwischen dem Militär und dem Präsidenten ein Machtkampf. Seitdem Al-Sisis Sicherheitsapparat die Demonstrationen mit Gewalt niedergeschlagen und innerhalb einer Woche mehr als 2.000 Menschen festgenommen hat, setzt der Präsident nun alles dran, die Kreise zu identifizieren, die vermeintlich hinter den Protesten stehen. Sein Sohn, Mahmoud al-Sisi, hat bereits gegen mehrere hochrangige Beamte des Geheimdienstes Ausreiseverbote erlassen und Untersuchungsverfahren eröffnet, die er höchstpersönlich leitet. Kontrolle über das Militär Unterdessen treibt das militärische Establishment die Sorge um, dass der Präsident die Kontrolle über das Militär vollständig an sich reißt. Dann könnte sie das gleiche Schicksal erwarten, das bereits mehrere hochrangige Ex-Militärs ereilt hat: Der ehemalige Stabschef und Präsidentschaftskandidat Sami Anan ist derzeit in einem Militärgefängnis inhaftiert. Der ehemalige Ministerpräsident und Präsidentschaftskandidat Ahmad Shafeeq steht währenddessen unter Hausarrest. Ein Schicksal, das laut gut informierter Quellen auch den ehemaligen Verteidigungsminister Sedki Subhi und den ehemaligen Stabschef Mahmoud Hegazi traf, nachdem man sie abgesetzt hatte.Die jüngsten Demonstrationen gegen Al-Sisi haben aufgezeigt, wie fragil das Regime mittlerweile ist. Andernfalls hätte sich der Präsident wohl nicht gezwungen gesehen, die Hauptverkehrsadern und zentralen Plätze des Landes mit Soldaten abzuriegeln, um jegliche für den 27. September geplanten Proteste im Keim zu ersticken. Die Proteste haben auch deutlich gemacht, dass von der Popularität, die Al-Sisi bei seiner Machtübernahme vor sechs Jahren genoss, nicht mehr viel übrig ist. Um den Protesten etwas entgegenzusetzen, mobilisierte der Sicherheitsapparat zur gleichen Zeit mit Hilfe der regierungsnahen Medien für Pro-Regime-Demonstrationen. Obwohl sie Öl, Zucker und weitere Lebensmittelspenden in Aussicht stellten, folgten nicht mehr als 20.000 Menschen ihrem Aufruf, darunter auch Studenten verschiedener Militärakademien. Doch auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen: In einem Land mit 27 Regierungsbezirken und fast 100 Millionen Einwohnern, verleihen 20.000 Menschen der Regierung keine Legitimität. Gescheiterter Anti-Terrorkampf auf dem Sinai Noch während Al-Sisis Sicherheitsapparat damit beschäftigt war, genügend Ägypterinnen und Ägypter für die Demonstration zu mobilisieren, verübte der IS auf dem Sinai einen Anschlag auf einen Posten der Armee, dem 19 Soldaten zum Opfer fielen. Ein klares Anzeichen dafür, dass die Strategie des Regimes im Anti-Terrorkampf gescheitert ist. The world must not stand silently by as President al-Sisi tramples all over Egyptians’ rights to peaceful protest & freedom of expression. The Egyptian authorities must immediately release all those detained & allow further protests on Friday to go ahead. https://t.co/YjB724V2ND— Amnesty International (@amnesty) 24. September 2019 Im Süden des Landes warfen die Demonstranten Bilder des Präsidenten auf den Boden, als sie zum ersten Mal seit der Januarrevolution wieder auf die Straße gingen, um den Rücktritt Al-Sisis zu fordern. Dass es in den südlichen Regionen zu Protesten kam, deutet darauf hin, dass die Allianz zwischen dem Präsidenten und den lokalen Autoritäten – zumeist Repräsentanten der letzten Überreste des Mubarak-Regimes – zerbrochen ist. Unter diesen Umständen dürfte es für ihn in Zukunft quasi unmöglich sein, die lokalen Wahlen in diesen Gebieten zu steuern. An den Reaktionen auf die Proteste im Westen lässt sich ablesen, dass Al-Sisi auch dort nicht mehr die gleiche Unterstützung genießt wie früher: Das amerikanische Außenministerium und die EU betonten das Recht der Ägypterinnen und Ägypter, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren und forderten den Präsidenten auf, die Repressionen zu stoppen und die Inhaftierten freizulassen. Auch wenn Al-Sisi der "Lieblingsdiktator" des amerikanischen Präsidenten Donald Trump sein mag, für alle anderen Entscheidungsträger in Washington und seine weiteren internationalen Verbündeten ist der ägyptische Präsident schon längst zur Bürde geworden. Ihnen scheint klar geworden zu sein, dass Repression nicht zu Stabilität führt, wie es zum Beispiel jüngst das Auswärtige Amt erklärte. Die letzte Verfassungsänderung ermöglicht es dem Präsidenten theoretisch bis zum Jahr 2030 im Amt zu bleiben. Angesichts der derzeitigen Lage stellt sich jedoch die Frage, ob er sich tatsächlich bis dahin an der Macht halten kann, und, auch wenn es unvorstellbar scheint, falls ja, wie? Eines steht jedenfalls fest: In den kommenden Tagen und Wochen muss sich Ägypten auf gewaltige Veränderungen gefasst machen. Taqadum al-Khateeb © Qantara.de 2019

Freiheit für Esraa Abdel Fattah!

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Mehr als 4300 Menschen wurden im Zusammenhang mit regierungskritischen Protesten in Ägypten festgenommen. Eine von ihnen ist Esraa Abdel Fattah. NGOs setzen sich für ihre Freilassung ein - und auch ein US-Diplomat. Von Sarah Salama | Esraa Abdel Fattah ist Journalistin, Bloggerin und Menschenrechtsaktivistin - und sie trägt den Vornamen des Präsidenten ihres Landes, Abdel Fattah al-Sisi, des Mannes, seit dessen Amtseintritt im Jahr 2014 mehr als 60.000 Menschen aus politischen Gründen festgenommen wurden, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet. Am 20. September des Jahres gingen trotz großer Angst vor politischer Verfolgung Hunderte von Menschen in mehreren Städten Ägyptens auf die Straße. Sie protestierten gegen das Regime von Machthaber Al-Sisi und vor allem gegen seine Verschwendungssucht: Er lässt Paläste und Villen bauen, während ein Großteil der Bevölkerung verarmt. Es waren die ersten Demonstrationen seit sechs Jahren, und die Reaktion darauf war vorhersehbar: Tausende Verhaftungen folgten - und noch immer geht das Regime gegen die Zivilbevölkerung vor. Schläge für Handy-Passwort Esraa Abdel Fattah wurde am 12. Oktober von Sicherheitskräften in der Hauptstadt Kairo festgenommen und verschwand. Laut Aussage ihres Anwalts Mohamed Salah wurde sie an einem unbekannten Ort festgehalten, wo sie viele Stunden mit einer Augenbinde an einer Wand stehen musste. Dabei wurde sie immer wieder geschlagen. Die Sicherheitsleute wollten sie dazu bringen, das Passwort für ihr Smartphone zu verraten, berichtet ihr Anwalt auf Twitter am Tag nach Abdel Fattahs Verschwinden. Mittlerweile ist Abdel Fattah wegen "Verbreitung von Falschnachrichten" und "Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung" von einem Gericht in Kairo zu einer 15-tägigen Haftstrafe verurteilt worden. Seit einigen Tagen befindet sich die Aktivistin im Hungerstreik, um gegen das Urteil und die Folter, die sie in der Haft erfährt, zu protestieren. Der bekannte Schriftsteller Alaa al-Aswani kommentierte ihre Verhaftung in seiner wöchentlichen Kolumne auf der arabischen Online-Seite der Deutschen Welle mit folgenden Worten: "Esraa Abdel Fattahs einziges Vergehen ist, dass sie das Recht der Ägypter auf Gerechtigkeit und Freiheit verteidigte. Ihr Leben ist in Gefahr. Sollte sie sterben, wäre Al-Sisi höchstpersönlich dafür verantwortlich."Laut Schätzungen der Organisation Reporter ohne Grenzen sind mindestens 16 Journalisten in Ägypten verhaftet worden. Die Organisation fordert, Abdel Fattah umgehend freizulassen und die Verfolgung regierungskritischer Medienschaffender zu beenden. Der Ägypten-Experte Amr Magdi arbeitet bei Human Rights Watch in Berlin und sagt, dass vor der Amtszeit Al-Sisis bekannte Persönlichkeiten eine gewisse Immunität genossen hätten. "Sie wurden nicht entführt, verhaftet oder gar gefoltert. Dieses Vorgehen gegen eine prominente Person wie Esraa Abdel Fattah zeigt, wie paranoid das System geworden ist", sagt Magdi. Wichtiger Teil der ägyptischen Zivilgesellschaft Esraa Abdel Fattah habe ihren politischen Aktivismus vor rund zwei Jahren auf Eis gelegt, erklärt der Ägypter. Im Jahr 2011 war sie durch ihren Demonstrationsaufruf als Teil der 6. April-Bewegung bekannt geworden - einer Bewegung, die maßgeblich für den Arabischen Frühling in Ägypten war. Auch nach der Revolution blieb sie aktiv, gründete eine Nichtregierungsorganisation und war ein wichtiger Teil der ägyptischen Zivilgesellschaft. Unter dem Hashtag "Wo ist Esraa Abdel Fattah" twittern Tausende Ägypter und versuchen damit Aufmerksamkeit auf die Lebensbedingungen in Ägypten zu lenken. "Solange Menschen auf der Straße und aus ihren Häusern entführt werden, solange die Handys der Bürger durchsucht werden, und solange Ausländer als Spione behandelt werden, wird das Regime weder Tourismus noch Investitionen erleben", schreibt eine junge Frau auf Twitter. Der Fall sorgt auch international für Aufregung. "Empörend" nannte David Schenker, US-Spitzendiplomat für den Nahen Osten, die Behandlung der prominenten Journalistin und Aktivistin in Ägypten. Er habe ihre Causa mit dem ägyptischen Botschafter besprochen, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Ägypten habe noch einen langen Weg, was die Einhaltung der Menschenrechte angeht, fügte Schenker hinzu. Egyptian activist Esraa Abdel Fattah @Esraa2008 was kidnapped on the street in #Cairo yesterday evening.#Where_is_esraa#اسراء_عبد_الفتاح_فين The last few weeks more than 3000 innocent people have been arrested in Egypt @CSOLifeline @CIHRS_en @ECRF_ORG pic.twitter.com/LSnF1ngzT7 — Åsa N. Söderström (@asaliberal) 13. Oktober 2019 Vor wenigen Tagen sprach auch der deutsche Außenminister Heiko Maas die Thematik in Kairo an. Es sei im ägyptischen Interesse, dass die Menschen sich dort auf gewisse Rechtsstandards berufen und "die Luft der Freiheit atmen" könnten, sagte Maas nach einem Treffen mit Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Esraa Abdel Fattah und Tausenden anderen wird jedoch genau diese Freiheit verweigert. "Fatale Menschenrechtssituation" Für Menschenrechtler Amr Magdi ging Maas nicht weit genug. "Esraa Abdel Fattah hat der Staatsanwaltschaft von der Folter berichtet, die ihr widerfahren ist. Sowohl die Haftbedingungen als auch die Folter sind in Ägypten immer schon ein großes Problem gewesen, doch noch nie war die Lage so fatal wie jetzt", erklärt Amr Magdi. Doch das ägyptische Regime leugnet, dass es überhaupt Folter gibt. Ein Thema in dem Gespräch zwischen Maas und Al-Sisi waren auch die deutschen Rüstungsexporte nach Ägypten. In diesem Jahr ist das Land bisher hinter Ungarn zweitbester Kunde der deutschen Rüstungsindustrie. Bis zum 30. September genehmigte die Bundesregierung Exporte in Höhe von 802 Millionen Euro. Rüstung und Technologie für ein autokratisches Regime "Europäische Länder müssen aufhören, Rüstungs- und weitere Technologiegüter nach Ägypten zu exportieren, die dort gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden. Auch die Zusammenarbeit der Geheimdienste muss gestoppt werden, denn Ägypten schränkt die Freiheiten der Menschen immer stärker ein", sagt Amr Magdi. Der Menschenrechtsorganisation Egyptian Commission for Rights and Freedoms (ECRF) zufolge wurden im Zusammenhang mit den Protesten mehr als 4300 Menschen festgenommen. Die Staatsanwaltschaft erklärte, etwa 1.000 Menschen seien wegen ihrer möglichen Beteiligung an den Demonstrationen befragt worden. Zur Zahl der Festnahmen hat die Regierung bisher keine offiziellen Angaben gemacht. Das Europäische Parlament hatte die jüngsten Fälle in der vergangenen Woche scharf verurteilt und in einer Resolution eine "tiefgreifende und umfassende Überprüfung" der EU-Beziehungen mit Ägypten gefordert. Außenminister Maas soll sich bei Al-Sisi auch für einzelne Personen eingesetzt haben. Ob Esraa Abdel Fattah eine davon war, ist nicht bekannt. Sarah Salama © Deutsche Welle 2019

Arabischer Frühling und Oktoberrevolution

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Der Enthusiasmus der Ägypter von damals lebt in den Irakern von heute fort. Doch die Aussichten sind derzeit in Bagdad ähnlich schlecht wie vor neun Jahren in Kairo. Ein Vergleich von Birgit Svensson | Eine Million waren es nicht, die zur Demonstration gegen die Präsenz der US-Truppen im Irak kamen, aber Tausende. Am linken Tigrisufer zog sich ein Protestzug entlang, der am Eingangstor der Bagdad Universität endete. Der Schiitenkleriker Muktada al-Sadr hatte zu einem Eine-Million-Marsch aufgerufen. "Amerikaner raus aus meinem Land", stand auf den Transparenten, die die Protestler vor sich hertrugen. Nach der Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani am 3. Januar am Flughafen in Bagdad durch eine amerikanische Drohne, hat sich die ohnehin anti-amerikanische Stimmung im Irak weiter verstärkt. War es vordem zuallererst der Iran, dessen enormen Einfluss im Irak kritisiert wurde, so sind es jetzt die USA. Die Iraker haben Angst, dass sie immer mehr zwischen die Fronten des Konflikts Washington gegen Teheran geraten und darin zerrieben werden. Mit allen Mitteln wird derzeit versucht, die Protestbewegung im Irak kaputt zu machen. Entführungen, gezielte Tötungen von Aktivisten, Drohungen gegen deren Familien, Razzien in deren Häuser und Wohnungen. Journalisten, die über die Proteste berichten, werden verfolgt, inhaftiert, Studios von oppositionellen TV-Sendern zerstört, die Technik unbrauchbar gemacht. Neuestes Beispiel der Repressalien ist die Entführung von vier Mitarbeitern einer französischen, christlichen NGO in Bagdad – drei französische Staatsbürger und ein Iraker. Spaltpilz Muktada al-Sadr Auch der Eine-Million-Marsch Muktada al-Sadrs hatte das Ziel, die Bewegung zu schwächen, indem er sie spaltet. Während sich der Kleriker noch zu Beginn der Demonstrationen im Oktober an die Spitze der Bewegung setzte und deren Ziele unterstützte, gilt er jetzt als Spaltpilz. Dass alle ausländischen Truppen den Irak verlassen sollen, wie die Menschen am Tahrir-Platz in Bagdad fordern, ist von Al-Sadr nicht mehr zu hören. Fotos machen die Runde, die ihn an der Seite Soleimanis und des iranischen obersten Führers Ayatollah Khamenei zeigen. Seine Positionierung ist jetzt eindeutig. Er hat sich von den Demonstranten am Tahrir-Platz entfernt und sie sich von ihm.Jetzt schlagen die Sicherheitskräfte brutal zu, nachdem Sadr seine Unterstützung für die Proteste aufgekündigt hat. Innerhalb von 24 Stunden sterben 13 Menschen, die Zelte am Tahrir-Platz brennen. Es wird mit scharfer Munition geschossen. Das Protestcamp soll aufgelöst werden. Die Arabellion zieht von Kairo nach Bagdad Eigentlich wollten die vier Journalisten nicht zu dem vorgeschlagenen Treffpunkt in einer Seitenstraße des Tahrir-Platzes in Kairo kommen. "Wir müssen damit rechnen, dass wir jede Minute verhaftet werden." Und dann sind sie doch erschienen, im Café Riche, wo schon Saddam Hussein als Student seinen Tee getrunken hat und sich mit Sympathisanten der Baath-Partei traf, deren Gründer er war und die ihm später zur Macht verholfen hat. "Es war ein Traum", sagen Nora und Noor, Alaa und Abdal Galil, was am 26. Januar 2011 begann und schlechthin als Arabischer Frühling bekannt wurde. Ein Aufstand der Jungen gegen Langzeitherrscher Husni Mubarak, "unsere Revolution", wie sie es immer noch nennen. Dass ihr Aufbegehren mitnichten eine Revolution war, weil es nichts veränderte, keinen Regimewechsel herbeiführte, keine Systemveränderung schaffte, wollen sie nur zögerlich  akzeptieren. Lebenslügen sind zäh. Zwei Frauen und zwei Männer, die es nicht wagen, ihre Nachnamen zu nennen aus Angst vor dem Mann, der ihre "Revolution" kaputt machte, der Demokratie versprach und Diktatur brachte.Ägyptens Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi regiert seit fünf Jahren mit eiserner Faust, steckt alle ins Gefängnis, die ihm öffentlich widersprechen, duldet keine Opposition und macht alle platt, die es versuchen. "Schlimmer als Mubarak", darin sind sich die vier Journalisten einig. Keiner der vier darf derzeit publizieren. Eine-Million-Märsche wie jetzt in Bagdad gab es auch im Frühling des Aufruhrs in Ägypten reichlich. Massenweise gingen die Nilbewohner auf die Straße. Nur zwei Wochen dauerte es, bis Mubarak zurücktrat. Das haben die Ägypter den Irakern voraus. In Bagdad hingegen ist Premier Adel Abdul Mahdi und seine Regierung nach acht Wochen zwar offiziell zurückgetreten, klebt aber am Stuhl fest, bis die nächste Regierung gebildet werde, die bis heute allerdings nicht abzusehen ist. Nora ist verblüfft zu hören, dass die Iraker Symbole der Rebellion aus Ägypten übernommen haben: T-Shirts mit ähnlichen Aufschriften und dem Datum vom Beginn des Aufstands, Schals mit den Landesfarben, Galgen, an denen Puppen oder Fotos derjenigen hängen, die weg gehören. Der Enthusiasmus der Ägypter von damals lebt in den Irakern von heute fort, die Hoffnung, etwas verändern zu können, das Selbstbewusstsein, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.Die Zeiten lebhafter Diskussionen, einer enormen Politisierung der Gesellschaft, echter Dialog und fruchtbare Auseinandersetzungen sind von Kairo nach Bagdad geflohen. Heute redet in Kairo niemand mehr über Politik, ohne sich nach allen Seiten umzuschauen oder gleich zu verstummen. "Angst essen Seele auf", hieß ein Film von Rainer Werner Fassbinder aus den 1970er Jahren. Das trifft genau den Punkt für die derzeitige Situation am Nil. Iraks "Oktoberrevolution" 1.300 Kilometer vom Tahrir-Platz in Kairo entfernt, stehen die Menschen im strömenden Regen und harren aus. Nein, ein Arabischer Frühling 2.0, wie die Ägypter sagen, machen sie in Bagdad und im Südirak nicht. Sie nennen ihren Aufruhr Oktoberrevolution, weil er am 1. Oktober begann, der Regierung ein Ultimatum setzte zurückzutreten, um dann drei Wochen später mit doppelter Wucht erneut loszulegen, weil in der Zwischenzeit nichts passiert war. Inzwischen ist eine Zeltstadt entstanden, die weit über den Tahrir-Platz hinausgeht und sich nach allen Seiten hin ausdehnt. Drei Brücken über den Tigris hatten die Protestler seit Monaten lahmgelegt und je zur Hälfte besetzt. Mehrere Versuche der Sicherheitskräfte, diese wieder frei zu kämpfen, waren fehlgeschlagen. Erst nach den Versuchen des Schiitenklerikers Muktada al-Sadr, der die Protestbewegung spaltet, ist es den Sicherheitskräften gelungen, eine der drei blockierten Brücken wieder frei zu kämpfen. Außerdem haben sie die Belagerer von der Schnellstraße im Osten des Tahrir-Platzes verdrängen können.Täglich wird gekämpft, um jeden Meter. Dabei werden immer härtere Geschosse eingesetzt. Auf Seiten der Sicherheitskräfte nicht mehr nur Tränengas und Lärmbomben, sondern jetzt auch tödliche Munition und Scharfschützen. Auch die Demonstranten bewaffnen sich mehr und mehr. Waren es anfangs noch Steine, Gummischleudern und Feuerwerkskörper, die sie gegen die Uniformierten warfen, sieht man jetzt zunehmend auch Molotowcocktails. Insgesamt sind im Irak inzwischen fast 500 Tote zu beklagen.Auch in Kairo fand dieses Szenario vor neun Jahren statt. In den Seitenstraßen des Tahrir-Platzes gab es blutige Kämpfe. Die Mohammed Mahmoud-Straße ist hierfür bezeichnend. Tagelang lieferten sich Demonstranten und Sicherheitskräfte heftige Gefechte. Offiziell sind dabei 846 Menschen gestorben. Jedenfalls wurde Husni Mubarak später vor Gericht dafür verantwortlich gemacht. Kairos Tahrir – ein Ort, den man besser meidet Tatsächlich, so meinen Alaa und Abdal Galil, seien es über 1.000 Tote gewesen. Später dann, im August 2013 habe es nochmals über 130 Tote gegeben, als die ägyptischen Sicherheitskräfte ein riesiges Sit-in am Rabia-al-Adawiyya-Platz vor der gleichnamigen Moschee zugunsten ihres gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi blutig beendeten. Dieses Massaker hat jedoch der jetzige Präsident zu verantworten, der damals Feldmarschall der ägyptischen Armee war. Bemerkenswert ist, dass sich Al-Sisi die Zustimmung für das brutale Vorgehen bei seinen Landsleuten holte, indem er sie aufrief, auf den Tahrir zu kommen und so mit den Füßen abzustimmen, ob er gegen die Muslimbrüder und ihren "Terror", wie er es nannte, vorgehen solle. Massen strömten auf den Platz, jubelten Al-Sisi zu und sangen die Nationalhymne. Noors Vater wurde daraufhin auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz getötet, ihr Bruder sitzt seit Monaten ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis. Für Philip Hanna vom Goethe-Institut in Kairo ist dies mit ein Grund, dass derzeit nicht mehr Menschen gegen Al-Sisi protestieren, dass sie trotz zunehmender Unzufriedenheit nicht aufbegehren. Sie empfänden eine gewisse Scham, dass sie damals dem Blutvergießen zugestimmt hätten, fühlten eine Mittäterschaft. So ist die einst leuchtende Ikone, der Tahrir-Platz in Kairo, zu einem Ort geworden, den man besser ignoriert. Während der Platz vor neun Jahren das Epizentrum der Bewegung darstellte und strahlende Augen bei Ägyptern und revolutionsbegeisterten Besuchern hervorrief, liegt er heute wie ein Aschenputtel da, das man am liebsten wegsperren würde.Bauarbeiter sind gerade dabei, auch noch den letzten Rest von damals zu eliminieren. Die Pflastersteine werden entfernt und durch Zement ersetzt. Könnte ja doch sein, dass einige wieder auf die Idee kämen und sie als Wurfgeschosse gegen die Sicherheitskräfte einsetzten. Wie Ende September, als in Ägypten Hunderte gegen Al-Sisi auf die Straßen gingen und daraufhin 2000 verhaftet wurden. Bagdads Tahrir – ein heiliger Ort In Bagdad ist die Magie des Tahrir-Platzes noch nicht verpufft, obwohl die Demonstranten auch hier ahnen, dass sie auf kurz oder lang keine Chance haben, ihre Ziele zu erreichen. Die niedergebrannten Zelte sind bereits ersetzt worden, eine Solidaritätskundgebung von Tausenden Studenten ermuntert die Camper durchzuhalten. Denn am Tigris ist es nicht die Bewegung selbst, die sich in zermürbendem Streit ergießt wie in Kairo, wo jeder der Anführer sein wollte und sich als solchen feiern ließ. In Bagdad gibt es auch drei Monate nach Beginn der Proteste keine Anführer. Und das aus gutem Grund. "Entweder die werden dann bestochen und mit Unsummen zum Schweigen gebracht", weiß Sarah, eine Medizinstudentin, die am Platz Essen verteilt. "Oder sie bringen sie gleich um." Auch wenn es Anführer gäbe, würden sie keine Namen nennen. Nein, der zermürbende Streit für die Bewegung im Irak ist der Konflikt zwischen den USA und dem Iran. Der Iran, der derzeit alles dransetzt, den Einfluss im Irak nicht zu verlieren. Und die USA, die ihrerseits alles dransetzen, eben diesen Einfluss zurückzudrängen. Sarah kommt jeden Freitag und bringt, was die, die am Tahrir ausharren, brauchen: Decken, Regenjacken, Schirme, Nahrungsmittel. Dieses Mal hat sie einen kleinen Ofen von zuhause mitgenommen, der mit Holz beheizt werden kann. In Bagdad ist es derzeit sehr kalt nachts. Das Thermometer zeigt nur vier Grad. "Der Tahrir ist ein heiliger Ort", sagt sie und meint damit nicht das Zelt der irakischen Christen, die eine Fotomontage mit dem Platz, auf den Maria ihre schützende Hand hält, aufgeklebt haben. Sie denkt dabei vielmehr an die letzten Tage, als rundherum Kämpfe tobten, der Platz selbst aber weitgehend unangetastet blieb. Eine Oase für zumeist junge Iraker, die von einer besseren Zukunft träumen. Birgit Svensson © Qantara.de 2020
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